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Ein Universum aus Linien

Neue Kinderbücher William Grill zeichnet Ernest Shackletons gescheiterte Antarktis-Expedition, die Brüder Nichols die Suche nach Herrn Sauermanns Zähnen

von Eva-Christina Meier

Wer ist Herr Sauermann? Davon berichten vor allem die vielen Dinge, mit denen sich dieser wunderliche ältere Mann umgibt. In seinem Haus finden sich Lock­enten, Lebensmittel, Lego, Lippenpomade, aber auch Golfbälle, Schalentiere und Pokale. Nun allerdings ist guter Rat teuer, denn: „Herr Sauermann sucht seine Zähne.“

Für das soeben erschienene gleichnamige Bilderbuch haben der in Kalifornien lebende Künstler Tucker Nichols und sein Bruder Jon alles zusammengetragen, gezeichnet und beschriftet, was sich im Laufe eines Lebens so ansammeln kann. Entstanden ist aus der Abbildung all dieser Besitztümer das heitere und ziemlich interessante Porträt eines unkonventionellen Menschen, der als Gestalt auf den Seiten des großformatigen Buchs nur sporadisch auftaucht, etwa wenn er bei der Suche nach seinem Gebiss nicht weiterweiß und bei seinen Schwestern Myrna, Irma oder Velma anruft. Danach werden seine Habseligkeiten wieder neu sortiert – Hüte und Helme, Familienporträts, Handschuhe, Socken. Oder in Kisten verpackt – Schalen(tiere), kaputte oder gelbe Sachen sowie allerhand, von dem Sauermann selbst sich fragt, was es wohl sei.

Jon & Tucker Nichols: „Herr Sauermann sucht seine Zähne“. Aus dem Amerikanischen von Kati Hertzsch. Diogenes Verlag, Zürich 2015, 48 Seiten, Hardcover inkl. Plakat, 20 Euro. Ab 5 Jahre

William Grill: „Shackletons Reise“. Aus dem Englischen von ­Harald Stadler. Nord Süd Verlag, Zürich 2015, 80 Seiten, Hardcover, 19,99 Euro. Ab 7 Jahre

Clara Lindström / Annakarin Nyberg: „Lass uns was backen“. Illustrationen von Katy Kimbell und Li Söderberg. Aus dem Schwedischen von Wiebke Ankersen. Kleine Gestalten, Berlin 2015, 48 Seiten, Hardcover, 14,95 Euro. Ab 6 Jahre

Tucker Nichols mit schwarzen Filzstiftlinien markant umrandete, großzügige Zeichnungen aus wenigen Strichen und kolorierten Flächen ergeben ein ganzes Universum aus erzählenden Objekten. „Realismus war nie mein Ding“, beschreibt der Künstler seinen unprätentiösen Stil, eine Art zeichnerische Selbstermächtigung. Keine Frage, am Ende findet Herr Sauermann seine dritten Zähne genau dort, wo sie in einem gut organisierten Haushalt hingehören – und macht erst mal Pause an Board eines „Kreuzfahrtschiffs“.

Holzschiff zum Südpol

Von einer der letzten großen Antarktis-Expedition erzählt „Shackletons Reise“, das in Großbritannien 2015 prämierte Buchdebüt des 25-jährigen Londoner Illustrators William Grill. 1914 brach der Brite Ernest Shackleton mit seiner Mannschaft auf der “Endurance“ (Ausdauer), einem polartauglichen Holzschiff zum Südpol auf, um als Erster den Kontinent zu durchqueren. William Grill beginnt seine mit Buntstift in Tönen und Flächen gezeichnete Bildgeschichte über das Abenteuer mit der Darstellung der umfangreichen Reisevorbereitungen.

Die Besatzung, Schlittenhunde, Schiffskonstruktion und Proviant hält er in kleineren Vignetten fest. Zunächst überrascht die kaum differenzierte Darstellung der Personen. Doch der Autor kontrastiert die kleinteiligen Unternehmungen der Mannschaft wirkungsvoll mit großformatigen in Blau, Weiß und Schwarz gehaltenen Illustrationen einer übermächtigen Eiswelt aus Schneestürmen, Packeis und Gletschern. Besonders die historischen Fotografien des ehemaligen Expeditionsteilnehmers Frank Hurley dienten dabei dem jungen Zeichner als Vorlage und Inspiration.

In anschaulichen Skizzen beschreibt Grill, wie die “Endurance“ bald vom Packeis eingeschlossen zerstört wird, aber auch, wie die Mannschaft gemeinsam Überlebensstrategien und einen Ausweg aus dieser unwirtlichen Landschaft entwickelt. In den verbliebenen Rettungsbooten rudern die Männer übers offene Meer zunächst zur entlegenen Elefanteninsel.

In einer Tour de Force gelingt es einer Gruppe um Expeditionsleiter Shackleton schließlich, die 800 Meilen entfernte Walfangstation Stromness zu erreichen und damit die Rettung der gesamten Besatzung zu ermöglichen. „Shackletons Reise“ handelt von diesem Wunder.

Himbeerschaum und Crumble

Eine Aufforderung zum selbsttätigen Tun geben Kindern dagegen die schwedischen Autorinnen Clara Lindström und Annakarin Nyberg mit ihrem schmalen Sachbuch „Lasst uns was backen“. Und vermutlich entwickelt sich in der Küche das Interesse am Backen (auch wegen süßer Zutaten) lange vor dem Kochen.

Mit Nachdruck appellieren Lindström und Nyberg im Nachwort an Erwachsene – auch wenn es schwerfällt –, Experimente in der Küche zuzulassen und ergebnisoffen zu bleiben. Gleichwohl räumen sie ein, dass beim Gebrauch von elektrischem Küchenmixer und heißem Backofen eine helfende Hand notwendig sein mag.

Zehn Rezepte, von leichtem Himbeerschaum über Johannisbeer-Crumble bis zu Kaltem Hund, werden in bebilderten und nummerierten Arbeitsschritten mit einem Minimum an Text erklärt. Ein bisschen lesen sollte man also schon können, wenn Erwachsene tatsächlich draußen bleiben sollen.

Siehe auch: instagram.com/tuckernichols/

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