Warten, bis kein Arzt kommt

SOZIALES Sozialsenator Czaja stellt Analyse zur Gesundheits- und Sozialstruktur vor und fordert mehr Arztpraxen für Berlin: Allein 118 Hausärzte fehlten derzeit der Stadt

Auch wenn das Wartezimmer nicht voll ist: An Hausärzten dürfte es ruhig mehr geben Foto: imago

von Anna Klöpper

Weite Teile der Berliner Bevölkerung sind weiterhin ganz schön arm dran – doch die Stadt ist sexier denn je. So in etwa lässt sich der Bericht zur sozialen Lage Berlins im Vergleich mit den anderen Bundesländern zusammenfassen, den Senator Mario Czaja (CDU) am Montag vorstellte. Berlin profitiert demnach vor allem vom Zuzug von gut ausgebildeten, jungen Menschen, sei aber gleichzeitig besonders „belastet“ durch eine hohe Armutsrisikoquote – die sich wiederum negativ auf Gesundheit und Lebenserwartung auswirke. „Wir sind überdurchschnittlich belastet, strukturell ärmer, aber schlauer!“, fasste Czaja denn auch salopp 75 Seiten Statistik zusammen.

Der vielgescholtene Sozialsenator (siehe Interview Seite 23) hatte Gelegenheit, die Pressekonferenz mit den ungewohnten Worten einzuleiten, dass hier etwas „gelungen“ sei – nämlich mit der Analyse eine Blaupause zu liefern, die auch andere Bundesländer künftig nutzen könnten. Berlin sei da „Vorreiter“, sagte Czaja.

Auf Bezirksebene heruntergebrochen gibt es den „Gesundheits- und Sozialstrukturaltlas“ seit 1990. Nun hat man die Berliner Indikatoren aus fünf Kernbereichen – etwa Erwerbsleben und Gesundheit – auf die Datensätze aus den anderen Ländern angewandt.

Auf Länderebene lassen sich „Indexe“ ausmachen, die die Sozialstruktur definieren: der Belastungsindex, der u. a. Arbeitslosigkeit und Lebenserwartung betrachtet. Hier ist Berlin Schlusslicht. Der Bildungs- und Verdichtungsindex stellt etwa die Bevölkerungsentwicklung und den Bildungsgrad da. Hier hat Berlin den besten Wert. (akl)

Schlusslicht im bundesweiten Vergleich ist Berlin indes beim sogenannten Belastungsindex, einem von insgesamt drei Indexen, auf dem die Analyse beruht (siehe Infokasten). Sogenannte Indikatoren wie Arbeitslosigkeit, niedriges Einkommen und Altersarmut – also der Bezug von Sozialhilfe – werden hier berücksichtigt. Berlin kommt hinter Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt auf den drittschlechtesten Wert. Deutlich besser gestellt: die BewohnerInnen in Baden-Württemberg, Bayern und Hessen.

Czaja betonte, das Datengewitter nun ganz pragmatisch nutzen zu wollen – und forderte am Montag, dass die Versorgung mit Arztpraxen deutlich verbessert werden müsse. Derzeit berät der gemeinsame Bundesausschuss zum Thema, dort wolle man die Analyse einbringen. Bisher bemisst sich die Zahl der Arztpraxen an der Einwohnerzahl, größere Städte bekommen einen „Bonus“. Die Kassenärztlichen Vereinigungen der Länder organisieren die Zulassung der Arztpraxen. Doch diese Berechnungsgrundlage aus den 90er Jahren sei unzureichend, betonte der Gesundheitssenator.

In der Tat zeigt der Belastungsindex: Arbeitslosigkeit ist ein Gesundheitsrisiko. BerlinerInnen sterben im Schnitt mit rund 80 Jahren ein Jahr früher als der Bundesdurchschnitt und haben zudem ein leicht erhöhtes Risiko, an Krebs zu sterben – auch weil in Berlin mit 32 Prozent der Anteil der RaucherInnen über dem Bundesschnitt von knapp 28 Prozent liegt. „Wenn wir diese Faktoren miteinbeziehen, fehlen Berlin derzeit allein 118 Hausärzte“, sagte Czaja. Von den insgesamt 8.000 niedergelassenen Ärzten in Berlin sind rund 2.500 Hausärzte.

„Wir sind überdurchschnittlich belastet, aber schlauer!“

Sozialsenator Mario Czaja, CDU

Der Berliner Ärztekammer gefiel der Tatendrang des Senators: „Wir haben zwar genug Ärzte in Berlin – aber nicht unbedingt dort, wo sie gebraucht werden“, so ein Sprecher. Bezirke mit einer schwachen Sozialstruktur seien für Ärzte wirtschaftlich weniger attraktiv, weil es unter anderem auch weniger Privatpatienten bedeute und mehr Langzeitkranke, die das Budget belasteten. Ob die Hinzunahme des Belastungindex allein allerdings das Problem löse, bezweifelte die Ärztekammer – Berlin sei ja ein Versorgungsbereich, man kann die Ärzte also nicht zwingen, ihre Praxis in Neukölln statt in Charlottenburg aufzumachen.

Die Grünen kritisierten indes, Czaja würde „statt konkreter Vorhaben nur statistische Ratschläge an die Bundesebene geben“. So gebe es etwa weiterhin keine offizielle Wohnungslosenstatistik, bemängelten die Sprecherinnen für Soziales, Jasenka Villbrandt und Marianne Burkert-Eulitz.