Die entrückte Heilige

Ikone Seit der Spätantike gilt Maria für die Christen als weibliches Ideal: in Hannover zeigt das Landesmuseum nun Madonnen

Überraschend sattelfest in christlicher Symbolik: Kurt Schwitters verwandelt das Gesicht der Sixtinischen Madonna in das einer modernen Frau der 1920er-Jahre  Foto: Aline Gwose/Michael Herling/Benedikt/Sprengel Museum Hannover/©VG Bild-Kunst

Von Bettina Maria Brosowsky

Die US-amerikanische Pop-Ikone Madonna darf in der aktuellen Ausstellung im Landesmuseum Hannover natürlich nicht fehlen. Denn hier geht es um die gleichnamige Gottesmutter, ihre Stilisierung als weibliches Ideal und die vielfachen Umdeutungen im Laufe der Geschichte. In einer Materie, die den BesucherInnen eigentlich sehr profunde Kenntnisse der antiken und christlichen Ikonografie abverlangen würde, griffen die Kuratorinnen rund um die Direktorin des Landesmuseums, Katja Lembke, stattdessen lieber zu einem erfrischenden Crossover künstlerischer Gattungen und Epochen.

So wird auch Madonnas Song „Like a Virgin“ am Eingang der Schau gleich mit einer Coverversion konfrontiert: Eine junge sizilianische Nonne, 2014 Gewinnerin des Castings Voice of Italy, reinszenierte das Musikvideo an seinen originalen Schauplätzen in Venedig, dem Zen­trum des Marienkults und – während der Renaissance – auch der Kurtisanen. Während Madonna 1984 in entsprechendem Outfit kundtat, dass sich alles weiblich Sinnliche im Hier und Jetzt realisiere, interpretiert die Ordensfrau den identischen Text als Gelöbnis einer im Glauben transzendierten Liebe.

Mal mythisch überhöht, mal Opfer

Die rund 250 Exponate zählende Ausstellung in Hannover lebt von derartigen Brechungen. Sie zeigt bis hinein in einen umfangreichen Part moderner Kunst den konstanten Inspirationsquell der nicht eindeutig zu fixierenden Frauengestalt Maria, die wahlweise mythisch überhöht, Opfer reformatorischer Bilderstürmerei oder trivialer Profanisierung wurde.

Bereits die Ursprünge der Verehrung Marias als Mutter Gottes sind komplex. Aus der Altsteinzeit vor 40.000 Jahren datieren die ältesten erhaltenen Darstellungen des Menschen in Europa, darunter Frauendarstellungen als kleine Skulpturen äußerst üppiger Körper. Sie sind Symbole der Fruchtbarkeit, der Geburt als wiederkehrender Erneuerung, des weiblichen Prinzips schlechthin. In der Antike erwuchs dann die Idee einer Muttergöttin oder Himmelskönigin, einer Magna Mater, mit und ohne Kind. Sie kommt in Ägypten etwa als Isis vor, in Griechenland und Rom als Aphrodite oder Demeter, der Göttin des Ackerbaus. Und es festigte sich der bildnerische Typus der – einer weltlichen Herrscherin gleich – majestätisch thronenden Muttergöttin. Sie wurde im christlichen Mittelalter zur vorherrschenden Darstellung der Madonna.

Verklemmter Blick

Eine spätere liturgische Üppigkeit verlangte nach einer repräsentativeren Figur und brachte die stehende Madonna hervor, die im Barock, etwa als monumentale Strahlenkranzmadonna, zu übermenschlichem Format auflief. Allerdings hatte Maria in den vorausgegangenen Zeiten der Reformation einen schweren Stand: die Idee ihrer Parthenogenese, einer geistlichen Mutterschaft jenseits biologischer Geschlechtlichkeit, wurde zugunsten eines Naturrechtes verworfen, das der Frau fortan die Funktion als Ehefrau und Mutter in einer patriarchalischen Ordnung zuwies.

Im Zuge der Reformation verschwanden auch die Frauenklöster – für Frauen damals einziger Zugang zu Wissen und Bildung – und damit auch die zivilisatorische Wirkung autonomer Äbtissinnen und Nonnen. Alles Erotische im Marienkult wurde nicht mehr in seiner symbolischen Dimension begriffen, die Frau geriet zur Projektionsfläche männlicher Vorstellungen. Ein verklemmter Blick stieß sich an der Körperlichkeit Marias, etwa als Madonna lactans, der stillenden Mutter mit entblößter Brust. Mitunter wurden ihre Bildnisse zerstört.

Auf Seiten der Gegenreformation avancierte Maria zum Kampfsymbol, mit den Auswüchsen einer prüden Bigotterie. Auch hier tolerierte man wohl ebenso wenig wie im Protestantismus die sublime Differenz der selbstbestimmten und andersartigen Lebens-, Liebes- und Leidensfähigkeit Marias. Der späte Katholizismus machte Maria zur entrückten Kitschfigur, der man Wunderheilungen und erleuchtende Erscheinungen andichtete, die man verehrte aber nicht mehr zu ehren vermochte.

Die Faszination der Maria überlebt indes bis heute in der weltlichen Kunst. Im Barock setzte ihre Profanisierung und Individualisierung ein. So nimmt Peter Paul Rubens um 1620 Ehefrau und Sohn als Modell für seine Madonna mit stehendem Kind, die trotz offenkundig christlicher Symbolik und kunstgeschichtlicher Vorläufer, etwa von Lucas Cranach, nun auch als Prototyp der bürgerlichen Frau und Mutter gelesen werden kann.

Ikonografische Rückkopplungen ziehen sich durch die Bildnisse der Moderne: Das stehende Kind mit Mutter im Hintergrund greift Lovis Corinth 1905 auf, die stillende Mutter ist mehrfach Motiv bei Paula Modersohn-Becker. Sie bildet daraus Szenen norddeutscher bäuerlicher Kargheit in erdigem Kolorit. Und selbst ein radikaler Erneuerer wie Kurt Schwitters erweist sich als überraschend sattelfest in Glauben und christlicher Symbolik. Eine Collage verwendet 1921 einen Stich nach der Sixtinischen Madonna Raffaels. Schwitters verschafft der Frauenfigur einen modischen Pagenkopf, fügt technisches Beiwerk und einen Preisaufdruck hinzu. So wird das Bildungsbürgertum, das sich Raffael-Drucke ins Wohnzimmer hängt, in seiner Frömmelei entlarvt.

Schwitters schuf aber auch zarte Madonnen-Skulpturen, die an den Hals einer Violine erinnern, mit einem winzigen Kindesbündel zu Füßen und integrierte sie in seinen Merzbau, der expressionistischen „Kathedrale des erotischen Elends“. Zugleich erhebt Schwitters das Sichversenken in die Kunst in den Rang des Gottesdienstes.

Sein absolutes Kunstwerk nährt nun Zweifel am theologischen Dogma: dem Fetisch der Übermutter Maria, ihrem auserwählten Sohn göttlicher Zeugung und an der Statistenrolle des sozialen Vaters, Josef.

„Madonna. Frau – Mutter – Kultfigur“: bis 14. Februar 2016 im Landesmuseum Hannover