: Der letzte alteuropäische Gelehrte
AUSSTELLUNG Er war einer der einflussreichsten Denker der Kommunikation und Medien des 20. Jahrhunderts. Die Akademie der Künste widmet dem Philosophen Vilém Flusser einen künstlerischen Parcours
von Tilman Baumgärtel
Wer verstehen will, was der spezielle Appeal von Vilém Flussers Art zu denken war, muss sich nur Harun Farockis Filmporträt des Philosophen ansehen. Zu Beginn des Gesprächs legt Farocki die Titelseite der aktuellen Bild-Zeitung auf den Caféhaus-Tisch, an dem die beiden sitzen. Er will, dass Flusser über das Verhältnis von Schrift und Bildern spricht, eins von dessen wichtigsten philosophischen Themen.
Flusser schiebt seine dicke Brille auf die kahle Stirn, setzt sich eine weitere dicke Lesebrille auf die Nase, blickt einmal auf das Papierstück und legt – eine erkaltete Tabakspfeife im Mundwinkel – sofort los: Man ist gewohnt, dass ein Bild einen Text illustriert, sagt er, oder dass ein Text ein Bild erklärt: „Aber auf dieser Seite sieht man deutlich, wie sich die beiden Kommunikationsarten gegenwärtig zu durchdringen beginnen.“ Es folgt ein blitzgescheiter Ex-tempore-Vortrag über die Schrift im technischen Zeitalter, vorgetragen mit diesem eigentümlichen, tschechischen Akzent, der Flussers Sprachfluss prägte.
Vilém Flusser – der als Kind auf dem Schoß Franz Kafkas gesessen haben soll – war einer der letzten alteuropäischen Gelehrten. Als er in den 1980er Jahren in Deutschland entdeckt wurde, stellte er einerseits eine vitale Verbindung zu intellektuellen Traditionen der Vorkriegszeit wieder her, die in Westdeutschland durch die Nazis weitgehend gekappt war. Andererseits ging es bei ihm allerdings auch um einige der heißesten Themen seiner Zeit: Digitalisierung, Vernetzung, neue, medial armierte Kommunikationsformen, das Verschwinden des Autors in der Technologie.
Seine Schriften über Medien haben bis heute wenig an Aktualität verloren, auch wenn die technische Entwicklung in diesem Bereich mit schwindelerregender Geschwindigkeit weitergegangen ist. Sein Interesse an Fotografie und Computer, an Virtual Reality und dem, was um 1990 „Telematik“ hieß und heute als Internet bekannt ist, basierte auf seiner Idee einer „Kommunikologie“, eines interdisziplinären Verständnisses von Kommunikationsprozessen aller Art.
Seine Texte und seine Ausführungen mögen gelegentlich von ausschweifender Länge gewesen sein, aber Flusser hatte geschraubtes Akademikerdeutsch nicht nötig und konnte komplexe Ideen so klar formulieren, dass manche seiner Einsichten wie Slogans vorgetragen wurden. Wer von ihm einmal erklärt bekommen hat, dass Informationen einen eben immer auch formieren – etymologische Herleitungen waren auch so eine Flusser-Spezialität – hat dieses Bonmot wohl nie wieder vergessen.
Ähnlich wie Marshall McLuhan entwickelte auch Flusser seine Theorien aus dem Dispositiven der Technologien, mit denen er sich beschäftigte. Für die Zukunft – unsere Gegenwart – sagte er voraus, dass die neuen Medien eine Informations- und Debattenflut auslösen würden, die letztlich eine Gesellschaft ohne Autoritäten hervorbringen – in Anbetracht dessen, wie in was für einem Stil hierzulande im Internet inzwischen über Politik und die sogenannte „Lügenpresse“ debattiert wird, eine ziemlich zutreffende Voraussage. Auch dass sich diese „telematische Gesellschaft“ selbst nach kybernetischen Prinzipien lenken würde, kommt der Realität von Smart Mobs und über Facebook koordinierten Flüchtlingstrecks recht nahe.
Der in Prag geborene Jude Flusser überlebte den Nationalsozialismus nur, weil er 1939 mit seiner späteren Frau nach London übersiedelte. Seine gesamte Familie wurde in deutschen Konzentrationslagern ermordet. Von London zog er weiter nach Brasilien, wo er mehr als zwei Jahrzehnte in der Wirtschaft arbeitete und sich nur nach Feierabend seinen intellektuellen Interessen widmen konnte. Erst 1967 begann er Kommunikationstheorie zu unterrichten. 1974 kehrte er aus dem inzwischen zur Militärdiktatur gewordenen Brasilien zurück nach Europa und lebte erst in Meran, dann in der Provence. Diese Heimatlosigkeit hat Flusser immer auch als Inspiration zum Weiterdenken betrachtet, statt sie zu beklagen.
1991 lud ihn Friedrich Kittler als Gastprofessor an die Ruhr-Universität Bochum ein. Im selben Jahr starb Flusser bei einem Autounfall auf der Heimfahrt nach einem Vortrag aus Prag. Obwohl sein Buch „Für eine Philosophie der Photographie“ (1983) ein internationaler Erfolg wurde, hatte er in Europa nie eine ordentliche Professur inne, sondern konzentrierte sich auf Vorträge, Aufsätze und Buchprojekte, die zum Teil immer noch der Veröffentlichung harren.
Und irgendwie kann man sich Flusser trotz seiner intellektuellen Brillianz auch gar nicht so richtig an einer Universität vorstellen – heute schon gar nicht. Drittmittel eintreiben? Sogenannte „European Transfer Credit Points“ vergeben? Seine Vorträge mit Powerpoint-Präsentationen pimpen? Dirigistische Post-Bologna-Studienordnungen durch akademischen Institutionen boxen?
Für derartigen Quatsch, der inzwischen zum tristen Alltag deutscher Akademiker geworden ist, hätte er wohl keine Geduld gehabt. Allenfalls die Powerpoint-Präsentationen hätten ihn eventuell interessiert – als Exempel für die von ihm prognostizierte Durchdringung von Text, Bild und Code.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen