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Keine Sternstunde!

Suizid Mit dem Verbot der organisierten Beihilfe zum Suizid hat der Bundestag die Grenze zwischen Politik und Moral unzulässig überschritten

Urban Wiesing

ist Arzt und Professor am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Tübingen. Er beschäftigt sich den mit ethischen Aspekten moderner Technologien in der Medizin. Von 2004 bis 2013 war er Vorsitzender der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer.

Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind mit Eigenlob recht großzügig. Wenn sie tun, was ihnen das Gesetz vorschreibt, nämlich nach ihrem Gewissen zu entscheiden, und unterlassen, was es offiziell nicht gibt, nämlich den Fraktionszwang, dann sprechen sie eilends von einer Sternstunde des Parlaments. Würden andere Berufe ihre eigene Tätigkeit gleichermaßen so generös loben, eine Inflation an Sternstunden wäre gewiss.

Falsch verstandenes Gewissen

Damit nicht genug. Die Parlamentarier neigen überdies dazu, die Bezugsgröße „Gewissen“ falsch zu verstehen, und zwar in einem moralischen anstatt in einem politischen Sinne. So auch in der abschließenden Debatte zur organisierten Beihilfe zum Suizid. Und daran hat sie von vornherein gekrankt. Sie war – wie schon die vorherigen Debatten – geprägt von einer unzulässigen Mischung aus Moral und Politik, die die eigentliche Fragestellung unglücklich vernebelt hat.

Insbesondere konservative Abgeordnete fragten sich, was sie bei ihren Angehörigen oder sich selbst aufgrund ihrer persönlichen moralischen Überzeugung an organisierter Sterbehilfe wollten. Gar nichts, und genau dafür haben sie abgestimmt. Ein Gesetzentwurf wollte sogar dem Mitbürger die Beihilfe zum Suizid verbieten. Das mag dem persönlichen Gewissen einiger Abgeordneter entsprochen haben, und dieses ist zu respektieren. Aber es betrifft nicht ihre politische Verantwortung. Denn das Gewissen in der Rolle eines Bürgers ist für andere Fragen zuständig als das Gewissen in der Rolle eines Abgeordneten.

In einer pluralistischen Gesellschaft muss sich ein Parlamentarier nicht die Frage stellen, welche Art der organisierten Sterbehilfe seiner eigenen Gewissensentscheidung entspricht, sondern die Frage, was der Staat aus welchen Gründen in dieser Frage verbieten muss. Parlamentarier sind für die Wahrung von Rechten, nicht für Gesinnung zuständig. In der selbst verkündeten Sternstunde scheinen nicht wenige diesen Unterschied übersehen zu haben.

Im Grunde haben die Parlamentarier vollzogen, was sie nicht vollziehen dürfen: Sie haben ihre eigenen moralischen Vorstellungen per Mehrheit allgemein verbindlich gemacht und das Ganze mit einer missverstandenen Gewissensentscheidung auch noch unstatthaft nobilitiert. Losgelassen in die Gewissensfreiheit, meinte eine Mehrheit der Parlamentarier, die Republik mit ihrem mehrheitlichen moralischen Gewissen beglücken und die Bürger von Gewissensentscheidungen entlasten zu müssen.

Sie haben den Unterschied zwischen ihren persönlichen Gewissensentscheidungen und den politischen Aufgaben eines Parlaments verkannt. Denn Gewissensfreiheit für einen Parlamentarier bedeutet nicht, dass er in seiner Rolle aufgrund seines eigenen Gewissens die Gewissensentscheidungen der Bürger begrenzen soll, quasi per Mehrheitsbeschluss zum besseren Gewissen der Bürger wird. Das ist nicht die Aufgabe eines Parlaments.

Was hätte der Bundestag tun sollen? Es geht in einem modernen Parlament nicht um die Lebens- und Sterbevorstellungen eines einzelnen Bürgers oder eines einzelnen Abgeordneten, sondern um politische Entscheidungen. Die beziehen sich auf Recht und Gerechtigkeit, nicht selten auf Ausgleich von Interessen.

Rechte wahren

Die Frage eines Parlaments ist nicht mehr, ob man bestimmte persönliche moralische Überzeugungen mehrheitsfähig machen kann, sondern wo Rechte betroffen sind, wo Interessen ausgeglichen werden müssen, wo Schutz gewährt werden muss und was der Staat aus diesen Gründen verbieten muss.

Die Aufgabe in Fragen der Sterbehilfe ist naheliegend: Das Thema ist heikel. Voreilige, irrationale, affektiv überlagerte Suizide sind wohlbekannt und sollten vermieden werden. Vorsichtsmaßnahmen, um Missbrauch und Druck von anderen zu verhindern, sollten aufgestellt werden. Kommerzielle Institutionen entwickeln ihr Eigeninteresse und ein solches Eigeninteresse kann bei der Sterbehilfe nichts Gutes bringen. Davor soll ein Parlament die Bürger bewahren, nicht aber vor einer ihrer schwierigsten Fragen des Lebens. Es hätte ein Verfahren festlegen müssen, dass es dem Bürger erlaubt, seine wohlüberlegten Wünsche umzusetzen, wohlgemerkt: seine wohlüberlegten! Es hätte die Beihilfe zum Suizid -– in welcher Organisationsform auch immer – sicherer machen müssen.

Es ist eine Gewissensentscheidung des Bürgers, an wen er sich beim Sterben wenden möchte

Regeln statt verbieten

Doch entlassen in die Gewissensfreiheit glaubten die Abgeordneten, per Mehrheitsbeschluss die Bürger von deren Gewissensentscheidungen entlasten zu müssen. Anstatt Gewissensentscheidungen der Bürger durch Vorsichtsmaßnahmen zu ermöglichen, hat man Gewissensentscheidungen der Bürger verhindert. Die organisierte Beihilfe zum Suizid hätte das Parlament regeln müssen, aber nicht verbieten dürfen, denn es ist eine Gewissensentscheidung des Bürgers, an wen er sich beim Sterben wenden möchte.

Die beiden nicht mehr ganz so großen christlichen Kirchen haben mit ihrem Einfluss auf die Parlamentarier und dem Beschluss des Bundestags einen Etappensieg errungen. Es darf bezweifelt werden, ob sie damit der wachsenden Entfremdung zu den Gläubigen entgegenwirken. Denn einmal mehr haben sie sich gegen die Mehrheit ihrer Mitglieder gestellt und Realitätsferne bewiesen. Der Beschluss des Bundestages dürfte einen gläubigen Christen oder einen Bürger in seinen persönlichen Vorstellungen eines gelingenden Sterbens kaum beeinflussen. Es dürfte ihnen nur schwerer fallen, diese umzusetzen. Der Tourismus wird wachsen. Die schwer zu kontrollierende Grauzone im Sterbeprozess zwischen Schmerzlinderung und tödlicher Überdosierung wird zur heimlichen Ausweichstrategie.

Doch das Problem ist durch die Abstimmung im Bundestag nicht vom Tisch. Der wissenschaftliche Dienst des Parlaments hat im Vorfeld bereits Zweifel geäußert, ob das Gesetz verfassungskonform ist. Es sei zu unpräzise. Roger Kusch von der Organisation „Sterbehilfe Deutschland“ hat Verfassungsbeschwerde angekündigt. Vermutlich wird bundesrepublikanische Politik einmal mehr in Karlsruhe entschieden. Urban Wiesing

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