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Geschichte einer Flucht aus der DDRVon Ost nach West über Budapest

Die Flucht als DDR-Bürger im Sommer 1989 in die BRD war eine Reise ins Ungewisse. Dann fiel am 9. November die Mauer. Unser Autor erinnert sich.

„Willkommen in der Freiheit.“ – DDR-Bürger 1989 bei der Ankunft in Österreich. Foto: dpa

Berlin taz | Mit zitternden Knien steige ich die Treppe unseres Ostberliner Hinterhauses hinauf. Als ich am Außenklo, eine halbe Treppe unter ihrer Wohnung vorbeikomme, steigt mir Fäkaliengeruch aus dem kaputten Abwasserrohr in die Nase. Nur nicht stehen bleiben und zögern, denke ich. Aber wie wird sie reagieren, wenn ich es ihr sage?

Anna (Name geändert) sitzt am Klavier. Sie spielt eine traurige Melodie; ihr Oberkörper und ihr Kopf schwingen im Takt, sodass ihre blonden halblangen Haare leicht hin und her wehen. Ich stehe hinter ihr und möchte sie anfassen, aber ich traue mich nicht. Ein halbes Jahr zuvor haben wir uns in diesem heruntergekommen Haus in der Rykestraße in Berlin-Prenzlauer Berg kennengelernt. Ich war gerade eingezogen, das heißt, ich hatte eine der leerstehenden Ein-Raum-Wohnungen besetzt, weil legal keine Bleibe zu kriegen war – und sie wohnte zwei Stockwerke über mir. Jetzt, Ende August 1989, sind wir ein junges Paar, das vor großen Entscheidungen steht. Ich bin 19, sie etwas älter – reif für den Aufbruch, raus aus dem Mief der DDR?

Mitten im Stück bricht sie ab. „Was ist?“, fragt sie barsch. „Wir hauen ab“, antworte ich. „Du spinnst wohl. Warum denn erst jetzt? Ich war doch schon mit meiner Schwester in Ungarn, wo die Grenze nicht mehr dicht ist. Du wolltest, dass ich zurückkomme.“ Sie hat recht mit ihren Vorwürfen; lange Zeit wollte ich nicht in den Westen.

Aber jetzt will ich, weil ich gerade auf dem Wehrkreiskommando meine Einberufung zum Grundwehrdienst bekommen habe. „Sie wollen mich zur Bereitschaftspolizei einziehen, ab 1. November in Basdorf bei Berlin“, sage ich. „Wenn ich da hin gehe, muss ich vielleicht auf unsere Freunde einprügeln.“ Wir kennen Oppositionelle, haben bei deren Wahlbeobachtungen geholfen und sind häufig auf Punk-Konzerten in Kirchen und Klubs. „Und wenn ich mich weigere“, fahre ich fort, „machen sie mich fertig. Und Studieren kann ich dann auch vergessen.“

Drei gute Gründe, es zu wagen

Aber wie organisiert man eine Flucht, die ein Abschied für immer bedeutet?

Ein Paar, eine gute Gelegenheit – und drei Gründe, das reichte für den Entschluss, es zu wagen. Anna wollte lange weg, auch wegen ihres Studienwunsches. Gern würde sie Musikwissenschaft studieren, aber bislang hatte sie keine Chance, einen der wenigen Plätze zu bekommen. Und ich – mit literarischem Interesse und langjährigen Schreibversuchen – würde viel lieber Germanistik studieren als Medizin, was meine Eltern forderten und wofür ich schon eine Zusage hatte. Geisteswissenschaftliche Studienplätze aber waren zu DDR-Zeiten knapp; der Staat bildete nur aus, was er brauchte – und das waren im akademischen Bereich vor allem Ingenieure, Lehrer und Offiziere. Im Westen war das damals anders, und das wussten wir.

Aber wie organisiert man eine Flucht, die ein Abschied für immer bedeutet? Schließlich konnte im Sommer ‚89 niemand ahnen, dass die Mauer fallen und die DDR untergehen würde. Mit der Begründung, noch im Spätsommer am Schwarzen Meer in Bulgarien eine Verlobungsreise machen zu wollen, nahmen wir kurzfristig Urlaub auf unseren Arbeitsstellen; sie war Pförtnerin in einem Theater, und ich überbrückte die Zeit zwischen Abi und Wehrdienst als Pflegehelfer in einem Seniorenheim. Dann kauften wir uns Hin-und-Rück-Zugfahrkarten nach Bulgarien – über Ungarn und Rumänien.

Und wir sorgten dafür, dass wichtige Dokumente wie Zeugnisse und Sozialversicherungsausweise nach Westberlin kommen würden. Und zwar mit Hilfe einer Freundin, die bereits mit einem Westberliner verheiratet war und seit Jahren auf ihre Ausreise wartete. Er würde die Papiere nach drüben schmuggeln. Warum dieser Aufwand? Wer bei der Ausreise aus der DDR in die Tschechoslowakei mit Schul- und Arbeitszeugnissen erwischt wurde, musste damit rechnen, wegen versuchter Republikflucht ins Gefängnis zu kommen. Aber Urlaub machen war noch nicht verboten.

„Zur deutschen Botschaft, bitte“

Ende September geht es los. Im Zugabteil reden wir permanent darüber, wie sehr wir uns aufs Schwarze Meer freuen, um mögliche Spitzel auszutricksen. In Bad Schandau jedoch, kurz vor der tschechischen Grenze, pochen unsere Herzen vor Angst, vielleicht aufzufliegen. Aber die Grenzer holen uns nicht aus dem Zug.

Am nächsten Morgen sind wir in Budapest. „Tschüss“, sagen wir im Abteil – und ernten verständnisvolle Blicke. Am Bahnhofsvorplatz steigen wir in ein Taxi. „Zur Deutschen Botschaft, bitte!“ Der Taxifahrer antwortet: „Ihr wollt bestimmt in den Westen. Da müsst ihr nicht zur Botschaft, sondern zum Auffanglager. Ich bringe euch dorthin.“ Wir sagen nichts – und er bringt uns zum Lager. Stunden später dürfen wir schon in einen Bus nach Bayern steigen. Als in Österreich ein freundlicher Polizist in den Bus kommt und „Willkommen in der Freiheit“ sagt, wissen wir, dass es geschafft ist. Bald darauf sind wir in Passau. Die entscheidende Etappe über die österreichisch-ungarische Grenze, also durch den Eisernen Vorhang, ist so unspektakulär, dass es uns unwirklich vorkommt.

Im Auffanglager Passau gibt es die ersten Tränen unter den DDR-Flüchtlingen. Weil Westberlin schon überfüllt ist, dürfen nur noch Ostberliner dorthin. Wir gehören zu den Glücklichen und kommen nach Nürnberg in eine Jugendherberge, um auf einen Platz im Flugzeug nach Berlin zu warten. Der 7. Oktober, Tag der DDR-Gründung, naht, und mit ihm nehmen die Proteste in Ostdeutschland zu. Als wir die Wir-sind-das-Volk-Demonstrationen in Leipzig, Berlin und Dresden im Fernsehen sehen, fühlen wir uns schlecht, wie Verräter. Unsere Freunde kämpfen, und wir sind einfach abgehauen!

Von der Turnhalle ins Containerdorf

Aber die Reise geht weiter. Wenig später fliege ich das erste Mal in meinem Leben – und lande letztlich mit Anna in einer Turnhalle in Berlin-Charlottenburg: Hunderte Feldbetten, ständiger Lärm, keinerlei Intimsphäre. Es ist furchtbar, so hatten wir uns den Westen nicht vorgestellt. Etwa zwei Wochen später kommt die Erlösung: Wir dürfen in ein Containerdorf an der Stadtautobahn umziehen. Hier haben wir ein eigenes beheizbares Zimmer: etwa 2,5 mal 4,5 Meter, ein Doppelstockbett, ein Schrank, ein Tischchen, dazu Gemeinschaftsdusche und -küche über einen kalten Gang. Für den Anfang ist das völlig in Ordnung.

Auf die Dauer jedoch liegen die Nerven blank: hellhörige Wände, Ärger mit den Nachbarn, Arbeitslosigkeit – und keine Chance auf ein eigenes Zuhause. Eine Wohnung zu finden, ist aussichtslos, und die linken Westberliner Wohngemeinschaften, zu denen wir uns hingehörig fühlen, sind freundlich zu allen – nur nicht zu Ostlern. Wir blitzen ab, zu zweit oder allein. Anna und ich streiten uns immer öfter, und lange würde die Beziehung nicht mehr halten. Gefühlt leben wir im deutsch-deutschen Niemandsland: Die Mauer ist gefallen, aber wir können und wollen nicht in den Osten zurück, und im Westen kommen wir nicht richtig an …

Epilog: Ein Jahr später studiere ich meine Wunschfächer an der FU Berlin und besetze, zusammen mit anderen West-Studenten, Häuser in Ostberlin. Der Wehrdienst bleibt mir erspart – in Ost und West.

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