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„Man ist nie allein unterwegs“

Kollektiv In Facebookgruppen tauschen sich Flüchtende über geeignete Routen aus – zumindest bis sie von Schleppern unterwandert werden, sagt Vassilis Tsianos

Flüchtende, die gerade auf der Insel Kos aus einem Schlauchboot gestiegen sind Foto: Angelos Tzortzinis/ afp

Interview Svenja Bednarczyk

taz: Herr Tsianos, wie hilft die digitale Kommunikation bei der Flucht nach Europa?

Vassilis Tsianos: Smartphones und digitale Kommunikationstechnologien sind für die Geflüchteten überlebenswichtig. Sie dienen der Mobilität. Sie helfen ihnen, sich im Transit selbstständig zu orientieren. Sie machen die Menschen unabhängig von den Diensten der Schlepper.

Wie funktioniert das konkret?

Man ist nie allein unterwegs. In Facebookgruppen profitieren alle vom Kollektivwissen der anderen Flüchtenden und tauschen sich aus über die am wenigsten gefährlichen Transitrouten und vertrauenswürdige Schlepper.

Wie erfährt man als Flüchtender von der Gruppe – und können Schlepper die Gruppe nicht durchdringen?

Deshalb ist die Lebensdauer der Gruppen kurz, gerade einmal zwei, drei Wochen, bis Schlepper versuchen, sich in die Gruppen einzuklinken und sie für sich zu kommerzialisieren. Aber nicht nur Schlepper, auch Frontex versuchte im vergangenen Jahr die Gruppen zu unterwandern. Unechte Profile sollten mehr über die Schlepper herausfinden. Doch das Projekt scheiterte schnell. Denn die Gruppen unterliegen einer sozialen Kontrolle der Flüchtenden – hinein kommt, wer sich aus der realen Welt kennt. Eine digitale Kommunikation mit analogem Vertrauen.

Wie intensiv ist denn der Kontakt zur Familie während der Flucht?

Mit ihrem Handy dokumentieren Flüchtende ihre Reise, damit Freunde und Familie die Möglichkeit haben zu kontrollieren, dass ihre Angehörigen am Leben sind und ihre nächste Station erreichen. Die Fluchtrouten sind geplant, in der Regel gibt es in jeder Station eine Kontaktpersonen, Vertraute, die den Flüchtenden helfen, die nächsten Schritte zu organisieren. Die Überfahrt von der Türkei nach Lesbos beispielsweise dauert rund sechs Stunden. Wenn ein Flüchtender in Griechenland angekommen ist, schreibt er seinen Verwandten eine Handynachricht mit einem Code, den nur sie kennen, erst dann wird der vereinbarte Betrag durch die Verwandten an den Schlepper ausbezahlen.

Foto: privat
Vassilis Tsianos

46, lehrt an der FH Kiel Soziale Arbeit und Migrationssoziologie und forscht zum Thema mobile Medien und ihrer Nutzung durch Geflüchtete. 2014 veröffentlichte er das Buch mit dem Titel „Mobile Commons, Migrant Digitalities and the Right to the City“.

Manchmal gibt es lange Fußmärsche auf der Reise. Wo laden die Fliehenden ihre Handys auf?

In Städten geht man einen Kaffee trinken und lädt das Handy wieder auf. Sonst reicht auch ein kleiner Aufenthalt in einem Krankenhaus. Schwierige Reiseabschnitte dauern maximal drei Tage. Das ist kein Problem. Ein großer Verlust dagegen ist, wenn das Smartphone illegal beschlagnahmt wird. Manche griechische, bulgarische und rumänische Polizisten leben sogar von Einnahmen der beschlagnahmten Handys. Entweder sie verkaufen sie weiter oder verlangen von den geflüchteten Personen eine Extrasumme, damit sie sie zurückbekommen.

Immer wieder berichten Medien – mit staunendem Unterton –, wie viele Flüchtlinge ein Smartphone besitzen, wenn sie in Deutschland ankommen.

Dass geflüchtete Personen Smartphones benutzen, ist nichts Besonderes. Die Debatte über die Nutzung von Smartphones ist eine schlecht verheimlichte Form des sozialen Neids. Es ist falsch anzunehmen, dass geflüchtete Personen die Elendsten der Elenden dieser Welt sind. Geflüchtete haben das gleiche digitale Verhalten wie wir.

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