piwik no script img

In der Kifferhöhle

OPERNPREMIEREN Die drei Berliner Opern haben am Wochenende gemeinsam die neue Saison eröffnet – ein Langstreckenlauf durch das 19. Jahrhundert

von Niklaus Hablützel

Am Sonntag gegen 22 Uhr war auch die letzte, größte und schwierigste der drei Berliner Opern dieses Wochenende am Ziel angekommen: Sophie Koch hatte den mutmaßlich längsten Liebestod der Opernliteratur hinter sich gebracht, mit wunderbar ausgeglichener, warm timbrierter Stimme hatte sie eine halbe Stunde lang die ganze Skala an Hoffnung, Trauer, Sehnsucht der indischen Königin Selica hören lassen, die auf einer Klippe in Mada­gaskar (wahrscheinlich) unter einem Baum ihr Leben beendet, der tödliche Rauschdüfte ausdünstet.

Nein, der Manzanillobaum des brahmanischen Endlostodes war nicht zu sehen – zu spüren aber schon. Die ganze Aufführung war ein einziger betörender Sinnenrausch und tatsächlich zum Sterben schön. Die ganz große Oper war zurückgekehrt an die Berliner Bis­marck­straße, die Oper, die es eigentlich nicht mehr geben kann, weil ihre Blütezeit die Mitte des 19. Jahrhunderts war. Giacomo Meyerbeer, auch ein Berliner übrigens und hier begraben, hat ihr die Form gegeben, viel mehr vielleicht als seine heute sehr viel höher geschätzten Zeitgenossen Verdi und Wagner. Denn ihm kam es allein darauf an, die Stimmung seiner Epoche (ihre Sucht nach Schönheit, Exaltation und großer Geste) aufzunehmen und seinem Publikum zurückzugeben.

Diese Zeit ist längst vergangen. Aber Vera Nemirova, einer Bulgarin, die noch zu Zeiten der DDR nach Berlin kam, heute Professorin an der Hochschule für Musik Hanns Eisler, ist es gelungen, sie in eine neue Bühnensprache zu übersetzen, die ähnlich rauschhafte Wirkungen erzielt. Jens Killian hat ihr eine ingeniöse Bühne konstruiert, die aus beweglichen, mit Segeltuch bespannbaren Segmenten einer Hohlkugel besteht. In diesen geschlossenen Weltraum hinein dirigiert Enrique Mazzola das kompliziert gebaute Riesenwerk der letzten „Grand opéra“ von Meyerbeer, die in der endlich rekonstruierten Originalfassung „Vasco da Gama“ heißt. (Besser bekannt war sie bisher unter dem Titel „L’Africaine“ der postumen und entstellend gekürzten Fassung der Pariser Uraufführung von 1865.)

Mazzola macht alles richtig. Er scheut sich auch nicht vor dem kunstgewerblichen Kitsch mancher Passagen, der ebenso dazugehört wie die raffinierten klanglichen und melodischen Einfälle, die ständig für neue Überraschungen sorgen. Man taumelt von einer dramatischen Zuspitzung zur nächsten, bewundert die kompositorische Virtuosität und lässt sich schockieren von Nemirovas mitunter drastischen Bildern: Sklaven werden gehandelt, es wird religiös und sexuell vergewaltigt, Terroristen schlachten ganze Schiffsbesatzungen hin; und wenn es indisch wird am Ende, sind wir endgültig in der Kifferhöhle.

Barenboims Regiepech

Großartig ist das, und die Deutsche Oper hat Großes vor. Sie will alle große Opern von Meyerbeer neu produzieren und hat noch vor der Premiere des „Vasco da Gama“ ein Symposion über die aktuelle Bedeutung des Musikers abgehalten, der in Deutschland noch immer unter dem anti­semitisch motivierten Verdikt Wagners leidet.

Ein wenig Bayreuth gab es auch im Berliner Opernmarathon: Daniel Barenboim hat seine Spielzeit an der Staatsoper mit Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ eröffnet – ohne falsche Bescheidenheit, als mehrtägiges Festspiel: Am Samstag gab es die ersten beiden Akte zu hören, am Sonntag waren wir um 12 Uhr mittags zum großen Finale auf der Festwiese geladen. „Verachtet mir die deutschen Meister nicht“, wie immer verbunden mit der Warnung vor den „Welschen“. Das alte Lied also, Wagner gegen Meyerbeer, das man nun aber am lebenden Beispiel nachprüfen konnte.

Es wird vergewaltigt, Terroristen schlachten ganze Schiffs­besatzungen hin

Es ist schon wahr: Wenn Daniel Barenboim Wagner spielt, sieht Meyerbeer etwas blass aus. Möglicherweise liegt das aber nur an Barenboim, der mit Sorgfalt auch noch auf die letzte Nebenstimme der Partitur achtet und ihr Sinn gibt. Schade ist nur, dass Barenboim oft Pech hat mit seinen Regisseuren: Aus irgendeinem Grund fand Andrea Moses es wichtig, die schwarz-rot-goldene Flagge der Bundesrepublik ins Spiel zu bringen. Ständig ist sie irgendwo zu sehen. Es kam der Dresdner Regisseurin offenbar darauf an, das 1868 uraufgeführte Werk in die Gegenwart zu überführen. Sie zeigt Bildungsbürger in Aufsichtsräten, einen Rocker, einen Proll, einen Streber, Hooligans und eine höhere Tochter.

Stattdessen hätte sie Barenboim zuhören sollen – oder Klaus Florian Vogt und Wolfgang Koch als Walter von Stolzing und Hans Sachs hätten es tun sollen. Es geht schlicht nicht um Deutschland (auch wenn das Hitler so sah), es geht um die Kunst. Was ein Meisterlied sei, zwischen Tradition und Intuition, ist eine Frage, die heute in tausend Casting-Shows verhandelt wird, wenn es denn unbedingt die deutsche Gegenwart sein soll. Aber nein, schon wieder muss dieses sogar von Brahms hochgelobte Werk für oder gegen irgendetwas Propaganda machen, weswegen am Ende die Kulisse des Berliner Schlosses aufgefahren wird. Dummheit, die auch ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert hat, als Schlachten um Nationen geschlagen wurden. Wagner war so typisch deutsch wie Meyerbeer – oder Offenbach. Nämlich gar nicht. Sie sind nur hier geboren. Wie auch der Königsberger Preuße E. T. A. Hoffmann.

Auch ein wenig antisemitisch war Hoffmann, nichtsdestotrotz hat die Komische Oper mit ihm den Premierenlauf eröffnet. Blitzgescheit hat ihm Barrie Kosky eine Sprechrolle in Offenbachs „Les Contes d’Hoffmann“ geschrieben, die das chaotische Fragment zu einer neuen, endlich spielbaren Oper macht. Ihr Thema: die schwarze Romantik der Gespenster und Doppelgänger. Offenbach hat sie in eine Musik gegossen, die keine großen Gesten braucht. Wenn alles vorbei ist (der Kampf um ­Wagner und Meyerbeer: unentschieden) schleicht sich ganz leise die „Barcarole“ ins Ohr, die ursprünglich die Ouvertüre zu Offenbachs vergessener Oper „Die Rheinnixen“ war. Vielleicht war er das größte Genie seiner Zeit. Die Berliner Saison ist eröffnet.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen