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Des Freundes langer Schatten

REFORMPÄDAGOGIK Vordenker Hartmut von Hentig wird heute 90 Jahre alt. Die pädosexuellen Verbrechen an der Odenwaldschule trüben sein Lebenswerk

Der Papst hat Geburtstag, aber nicht alle wollen ihn feiern. So könnte man die Stimmungslage am heutigen 90. Geburtstag des „Pädagogenpapstes“ Hartmut von Hentig umreißen. Der Diplomatensohn mit dem schlohweißen Haar gilt als Vordenker der deutschen Reformpädagogik. Er hat in den 70er Jahren die Laborschule in Bielefeld gegründet, die als Vorbild für selbstbestimmtes, demokratisches Lernen gilt. Er hat gegen den Leistungswahn der Pisa-Gesellschaft gewettert, die Einheit von Leben und Lernen gefordert.

Als 2010 öffentlich wurde, dass sein langjähriger Lebensgefährte Gerold Becker als Schulleiter der Odenwaldschule zahlreiche Schüler sexuell missbraucht hatte, äußerte sich von Hentig jahrelang gar nicht, später nur ausweichend. Jetzt, kurz vor seinem 90., hat er sich erneut zu Wort gemeldet – und sich damit keinen Gefallen getan.

„Die kindlichen und jugendlichen Opfer der Straftaten haben mein tiefes Mitgefühl“, schreibt von Hentig in einem Brief an die Deutsche Presse-Agentur. Er bezeichnet es als Fehler, sich in der Vergangenheit nicht deutlich genug von dem Missbrauch dis­tanziert zu haben. Frühere Aussagen, wonach er von der „Verführung“ Beckers durch Kinder sprach, seien miss­verständlich wieder gegeben worden. Gleichzeitig aber bekräftigte von Hentig erneut, er habe von den Taten nichts gewusst. Becker sei auch nicht sein Lebensgefährte gewesen, sondern lediglich ein „guter Freund und Nachbar“.

Bei „Glasbrechen“, dem Verein der Opfer der Odenwaldschule, ist man über diese Distanzierung verblüfft. Becker und von Hentig hätten aus ihrer Lebensgemeinschaft keinen Hehl gemacht. Von Hentig sei in Gerold Beckers Wohnung auf dem Internatsgelände ein und aus gegangen, Schüler hätten die beiden Männer zusammen im Bett gesehen. Altschüler beschuldigten von Hentig mehrfach, zusammen mit „Knaben“ bei Becker übernachtet zu haben. Dazu äußerte sich von Hentig nie. Von den Opfervertretern fühlte er sich verfolgt. Ende 2011 sagte er einen Vortrag bei der Golo-Mann-Gesellschaft in Frankfurt ab, weil „Glasbrechen“ vor dem Gebäude demonstrieren wollte. Die Kundgebung nannte von Hentig Nötigung, die Demonstranten „Wegelagerer“.

Der Nimbus der Odenwaldschule, an der mehr als 132 Kinder sexuell missbraucht wurden, ist perdu, das einstige Vorzeigeinternat wird derzeit abgewickelt. Wie aber steht es um von Hentigs Erbe? Die Bielefelder Laborschule, die der Pädagoge zeitgleich mit dem Oberstufenkolleg gründete, gilt auch nach heutigen Maßstäben als fortschrittlich: keine Noten, keine Klassenräume, stattdessen viel gelebte Demokratie und freie Entfaltung der Persönlichkeit. Laborschulleiter Rainer Devantié ist noch immer voll des Lobes für von Hentigs pädagogische Ideen: „Er hat vieles von dem vorweggenommen, was heute als neu gilt, etwa den Inklusionsgedanken“.

Die Taten an der Odenwaldschule seien unentschuldbar, eine kritische Aufarbeitung notwendig. Deshalb aber gleich sämtliche Prinzipien der Reformpädagogik in Zweifel zu ziehen, hält Devantié für überzogen. „Die Nähe zum Kind bleibt richtig, auch die Einheit von Schule und Leben“, findet der Schulleiter. Die staatliche Versuchsschule, eine Ganztagsschule ohne Internatsbetrieb, hat nach Devantiés Angaben gleich nach dem Odenwald­skandal die Archive geöffnet: Es habe keine Vorfälle gegeben. Den Schulgründer habe man erst kürzlich zu Gast gehabt, es habe anregende Diskussionen gegeben – man freue sich auf ein baldiges Wiedersehen. Nina Apin

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