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Schokoriegel mit Depressionen

Theater Frustrierte Figuren in abgewirtschafteten Beziehungen: die Tragikomödie „≈ [ungefähr gleich]“ von Jonas Hassen Khemiri am Thalia Theater in Hamburg

Ein Haufen Centmünzen funkelt in „≈ [ungefähr gleich]“ auf einer riesigen Waage Foto: Krafft Angerer

von Robert Matthies

Dass sich dieser Theaterabend um Geld, um die Jagd nach Kapital in all seinen Formen und um soziale Ungleichheit drehen wird, daran lässt schon das Bühnenbild keinen Zweifel: ein großer Haufen kupferner Centmünzen funkelt auf einer riesigen Waage, die vom Gewicht des Geldes aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Alles, was hierauf passiert, muss ja schiefgehen. Bald schon verliert der Haufen seine Form, wird das Kleingeld in die Luft geschmissen, rinnt durch Hände, rutschen die Schauspieler beim Versuch, die Rampe heraufzuklettern, darauf aus.

Über der Bühne listet eine Laufschrift auf, was die deutschsprachige Erstaufführung der Tragikomödie „≈ [ungefähr gleich]“ des schwedischen Autors Jonas Hassen Khemiri das Hamburger Thalia Theater gekostet hat: „Fernbedienungen (2 Stück): 0 € (Requisite)“ steht da oder: „Sofa, getauscht gegen zwei Pakete Katzenstreu (2-mal 2,59 €)“.

Davor beginnt Ökonom Mani über „Van Houtens Theorem“ zu dozieren, das ein niederländischer Schokoladenfabrikant 1838 aufgestellt habe, um den Unterhaltungswert eines Erlebnisses zu ermitteln: Wie viel Leben investiert man, was kommt dabei heraus, zum Beispiel an diesem Abend?

Ökonomie des Zufalls

Schnell macht Regisseurin Anne Lenk klar, das man all das nicht so ernst nehmen darf: Van Houten kommt als Schokoriegel auf die Bühne, später treten unter anderem ein in Gold gewandeter Karrierecoach, ein dampfender Parfümflakon und ein Pfarrer auf, auf dessen Brust steht: „Hier könnte ihre Werbung stehen.“

Inmitten all der allzu präsenten Lustigkeit wird die Tragik blass: Der Schokoriegel klagt über Depressionen, dass er sich fühle, als falle er in ein schwarzes Loch. Ganz ähnlich fühlt sich Dozent Mani. Nichts ersehnt er mehr als festen Boden unter den Füßen: eine Festanstellung als Uni-Professor, endlich all die Vorlesungen über Alternativen zu Markt und Kredit halten. Stattdessen schlägt er sich mit gelegentlichen Vorträgen zur Wirtschaftsgeschichte durch.

Mit Biografien ist er dabei erfinderisch: Ein Van-Houten-Theorem kennt kein echter Ökonom, und Laura Lorenzo, die es aktualisiert habe und im Miss-Piggy-Kostüm von Mani doziert bekommt, dass all ihr Geld auf den Märkten verdampft sei, ist tatsächlich nur der Name eine Bioparfüms.

Weniger erfinderisch ist dieses Klischee eines prekarisierten Akademikers mit Hornbrille und Flanellhemd, wenn es um die eigene Biografie geht, um Alternativen zur persönlichen Misere: Für einen schlechten Rechen- und Lebenskünstler hält ihn seine Lebensgefährtin Martina. Und er sie für eine verwöhnte Göre. Bald nach der Hochzeitsfeier, auf der beide sich noch in aberwitziger Ökonomensprache eine Investition in die Beziehung versprechen, sieht man, wie abgewirtschaftet die ist.

Denn ständig fehlt das Geld. „Aber wir haben uns“, sagt sie. Dabei träumt auch sie längst vom Ausstieg aus ihrem verhassten Leben als Rubbellose verkaufende Tabakladenangestellte, vom Selbstversorgerleben auf dem Biobauernhof. Aber den Wunsch nach Exklusivität und Luxus bekommt die Tochter aus gutem Hause nicht aus sich heraus. Ihre ernüchternde Lösung: Sie beginnt Luxusartikel zu klauen – und fühlt sich endlich frei – nicht mehr abhängig von Arbeit und Unterstützung durch die Eltern.

Und bandelt offenbar mit Peter, dem Obdachlosen, an, der alles praktisch umsetze, worüber ihr inkompetenter Ökonomenmann immer nur rede: sich jenseits dieses ganzen Kapitalzirkus zu stellen. Peter bleibt ein Phantom, über das die anderen nur reden. Ist er tatsächlich der Einzige, der verstanden hat, wie der Aufmerksamkeitsökonomieladen läuft? Oder eigentlich auch nur ein Schauspieler, der eine Rolle einübt?

Khemiri erzählt die Geschichten seiner fünf Glück Suchenden verschachtelt und verknüpft sie

Khemiri erzählt die Geschichten seiner fünf Glück Suchenden verschachtelt, verknüpft sie, ohne dass die Betroffenen den Modus ihrer Verbindung erkennen: eine Ökonomie des Zufalls. Die Krise des Ökonomischen stellt sich auf der Ebene persönlicher Erfahrung nur als Krise sozialer Positionierung dar.

Antworten auf große Fragen liefert Khemiri nicht, bastelt stattdessen ein Labyrinth kleiner Szenen und Interludien, bringt Ebenen und Perspektiven zusammen, bricht die Erzählung immer wieder auf – und ökonomische Fragen auf die Ebene der Erfahrung herunter.

Regisseurin Anne Lenk jagt ihre Schauspieler durch dieses Labyrinth, lässt dabei leise Töne und geschickte Ironie aber im Remmidemmi und rasanten Szenen- und Rollenwechsel untergehen.

Khemiris Impetus – vorzuführen, dass in einer Welt, die sich auf Kredit gründet, jede Lebensentscheidung zur absurden Farce werden muss –, er wird an diesem Abend, der zu sehr auf hohen Unterhaltungswert setzt, so ungreifbar wie der funkelnde Haufen auf der Bühne.

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