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Kassen sind jetzt geöffnet

AUGENSCHEIN Das bulgarische Plowdiw ist ein äußerst geschichtsträchtiger Ort mit langer Kunsttradition. 2019 wird die Stadt zur europäischen Kulturhauptstadt

Pravdoliub Ivanov, „Down or up / working title“, Holz, 2015, gezeigt in der Ausstellung Mature & Angry Foto: Kommune Plowdiw

von Annegret Erhard

Es ist ein ewiger Wettstreit zwischen der Hauptstadt Sofia und dem altehrwürdigen Plowdiw, der zweitgrößten Stadt Bulgariens. Die Nase vorn hat derzeit das 150 Kilometer südöstlich der Landesmetropole gelegene Plowdiw: Sieger im Wettbewerb um den begehrten Titel Kulturhauptstadt Europas, 2019 ist es so weit. Ausschlaggebend waren sicherlich auch die allerorten sichtbaren Schichtungen der jahrtausendealten Siedlungsgeschichte. Da gibt es das antike Stadion und die erst in den Siebzigern freigelegten marmornen Reste des römischen Amphitheaters neben der riesigen, frisch renovierten mittelalterlichen Moschee im Herzen der Stadt. Da sind die prächtigen, von Touristen umwuselten Häuser der großbürgerlichen, überwiegend jüdisch-armenischen Handelsfamilien des 19. Jahrhunderts auf einem der sechs felsigen Hügel, die das Stadtbild ebenso prägen wie die kommunistischen Architekturerfindungen.

Viele von ihnen, verhasst und verteufelt als Mahnmale eines korrupten Systems, wurden abgerissen, was übrig blieb, steht heute vielfach leer. Und bietet eine ideale Projektionsfläche für zeitgenössische Positionen junger bulgarischer Künstler, die sich mit dem kommunistischen Regime weniger frustriert als ihre Elterngeneration, sondern weit mehr prüfend und sezierend auseinandersetzen. Das Potenzial der Stadt an besonderen Schauplätzen ist inspirierend, eine Veranstaltung wie das jüngste Open-art-­Wochenende (Plovdiv Nights) entsprechend anspruchsvoll, freilich auch recht disparat aufgestellt. Sämtliche Museen öffnen ihre Türen rund um die Uhr, lassen sich interdisziplinär etwas einfallen, tun mit, wenn bulgarische, österreichische französische, US-Kuratoren Kunst in die Stadt bringen, die ihnen so gar nicht geheuer ist. Dabei sind auch die vielen, den Hervorbringungen der ehemaligen Staatskünstler traditionell verhafteten Galerien, die mit den mittlerweile finanziell gut ausgestatteten und auf hohem Preisniveau rivalisierenden Sammlern alter Couleur sehr gut verdienen.

Zerbrochener Traum

Noch tiefer als andernorts scheint jedoch der Graben zwischen den Generationen zu sein. Nach dem Ende der kommunistischen Ära war zwar das System erledigt, die Strukturen (des Geheimdienstes et cetera) funktionierten jedoch weiter. Der Traum von Demokratie und Freiheit war für diejenigen, die an einen vollständig neuen Aufbruch geglaubt haben, alles hinter sich lassen wollten, zerbrochen. Man richtete sich irgendwie ein. Deprimiert, rückwärtsgewandt oder zynisch und ganz besonders schlau.

„So kann man nichts bewegen“, sagt Wesselina Sariew, Galeristin und umtriebige Initiatorin der Plovdiv Nights, „wer noch in den alten Strukturen denkt und Zuteilungen jedweder Art von oben erwartet, hat schon verloren.“ Und das seien viele. Förderungen bekäme man in der Regel nur von ausländischen Institutionen, wie etwa der „America for Bulgaria Foundation“. Und darum müsse man sich nun mal selbst kümmern. Sie pflegt ein ergiebiges Netzwerk, zeigt auf internationalen Messen die Arbeiten überwiegend junger bulgarischer Künstler. Verkauft aber auch fast ausschließlich an Sammler außerhalb Bulgariens.

Viele der von ihr vertretenen Künstler leben und arbeiten inzwischen in Wien, in Berlin. Die Sogwirkung hält an. Etliche, beileibe nicht alle, setzen sich in ihren Arbeiten mit dem Schicksal ihrer Heimat auseinander, mit Traumata und Visionen und finden dafür eine ausgesprochen lakonische Bildsprache. Zu denjenigen, die dageblieben sind und längst schon internationales Renommee haben, wie Nedko Solakow, der die bulgarische Szene weltweit und hervorragend vertritt, zählt Prav­doliub Ivanov. Seine jüngste Arbeit „Down or up / Working Title“, eine hölzerne Treppenkonstruktion auf einem hohen, dicht gebauten und fein verzweigten Gerüst, führt von zwei einander gegenüberliegenden Seiten in schmalen steilen Stufen zum prekären Höhepunkt, einem winzigen Plateau, auf dem kein anderer Platz hat. Gefragt, warum er nicht wie die vielen anderen das Land verlassen hat, spricht er von Feigheit, von verpassten Gelegenheiten – und von Illusionen. Seine Installation steht in einem rudimentär restaurierten, eindrucksvollen, aber schwer bespielbaren, weil architektonisch präpotenten Hamam aus dem 16. Jahrhundert, das derzeit die Ausstellung „Mature and Angry“ der Art Today Association – Center for Contemporary Art beherbergt. Es sind Arbeiten von Künstlern, die 1990 jung, optimistisch und zu allem bereit waren. Sie sahen ihren Platz in einer globalisierten Welt.

Transformation der Mythen

Gut 15 Jahre später waren mit der Wirtschaftskrise und ihren nicht nur ökonomischen Folgen die meisten ihrer von Anbeginn vielleicht irrealen (oder surrealen?) Utopien gescheitert. Andererseits ist es gerade diese Künstlergeneration, die – privat und generell – Mythen und Phänomene von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und auch Ethik jener Jahre künstlerisch transferieren kann und jung genug ist, um alternative Konzepte einigermaßen glaubwürdig anzuregen. Nicht nur in Plowdiw.

Doch auch hier etabliert sich politisches Interesse. Neben privaten Sponsoren wie dem ehemaligen Schweizer Botschafter und Sammler Gaudenz Ruf unterstützt das Österreichische Bundesamt für Kultur und Kunst diese Aktivitäten (nicht ganz uneigennützig: die wichtigsten ausländischen Investoren in Bulgarien kommen aus Österreich). Das spornt die Kommunalpolitiker an, inzwischen sind sie fast schon Feuer und Flamme, haben verstanden und öffnen – vorsichtig – die kommunalen Kassen. Man ist ja schließlich bald Kulturhauptstadt.

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