: Für einen neuen Patriotismus
Migration Was ankommende Flüchtlinge, die bleiben wollen und sollen, brauchen, ist ein neues Heimatgefühl. Das müssen wir ihnen bieten können
ist Fraktionschef der Grünen im rot-grün regierten Hamburg. Seit 2011 ist er Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft und wirtschaftspolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion.
Wir brauchen einen neuen, entspannten Patriotismus. Das sage ich bewusst in Zeiten, in denen fast täglich Flüchtlingsunterkünfte brennen, Nazis als „Patrioten“ oder „besorgte Bürger“ demonstrieren und die „Alternative für Deutschland“ die hässliche Fratze der Fremdenfeindlichkeit zur Schau trägt. Und ich fordere diesen Patriotismus genau aus diesem Grund.
Wir stehen vor einer sehr ernsten Herausforderung: 800.000 bis 1 Million Menschen werden dieses Jahr über das Asylsystem nach Deutschland einwandern. Wie gehen wir damit um?
In den Bundesländern versuchen wir den Kraftakt zu meistern, diese Menschen halbwegs vernünftig unterzubringen. Das ist angesichts der Größenordnung sehr schwierig, aber gleichzeitig arbeiten sehr viele Menschen unter enormer Belastung daran, dies dennoch hinzubekommen. Das berührt mich zutiefst. Hamburg ist eines der wenigen Bundesländer, die bei der Erfassung überhaupt noch im Zeitplan sind und in denen es noch eine reale Chance gibt, Zeltunterkünfte im Winter zu vermeiden. Daran arbeiten wir auf Hochtouren.
Der „Gastarbeiter“-Fehler
Aber die ungleich größere Herausforderung ist eine andere: Ein Großteil der Menschen, die hier Zuflucht suchen, wird dauerhaft bei uns bleiben. Wenn wir nicht den „Gastarbeiter“-Fehler wiederholen wollen – wenn wir nicht ignorieren wollen, dass es sich um dauerhafte Zuwanderung handelt –, müssen wir diesen Menschen eine dauerhafte Perspektive bieten. Das beginnt bei der Unterkunft, geht über Schulbildung, Gesundheitsversorgung, Ausbildungsanerkennung und Arbeitsplätze bis zur deutschen Staatsangehörigkeit. Das sind die staatlichen Aufgaben.
Aber es geht noch um mehr. Es geht um das gleichberechtigte Miteinander und das Zugehörigkeitsgefühl zu dieser Gesellschaft und diesem Land. Von den Geflüchteten, aber auch von uns. Wir müssen die Integration besser hinbekommen als in der Vergangenheit. Auch wenn unter den vielen engagierten Menschen in der Flüchtlingshilfe viele ein gesundes Misstrauen gegen den Begriff „Patriotismus“ haben oder ihn rundheraus ablehnen: Genau deren Haltung der Solidarität, der Nächstenliebe, der Menschlichkeit ist ein wesentlicher Bestandteil dessen, was ich mit einem neuen Patriotismus meine. Dieser Patriotismus will Integration: Mit der doppelten Staatsbürgerschaft geben wir den Zuflucht Suchenden die Chance, ein echter Teil der Gesellschaft zu werden, ohne dass wir verlangen, dass sie ihre Wurzeln kappen.
Der andere Bestandteil ist, dass wir klare Erwartungen an diejenigen formulieren, die hier dauerhaft leben und Teil unserer Gesellschaft sein wollen. Die Integration der Flüchtlinge kann nur gelingen, wenn die Gesellschaft sehr offensiv sagt, wir wollen euch eine Heimat bieten, wir wollen euch Chancen geben, aber wir verbinden damit auch Erwartungen – etwa die, die Sprache schnell und gut zu lernen. Wer sich zurechtfinden möchte, sollte darauf aus sein, mit anderen kommunizieren zu können. Sonst bleiben viele Chancen der Integration ungenutzt. Wir verknüpfen daran auch die Bedingung, dass Freiheit, Pluralismus, Toleranz, Gleichberechtigung von Frauen und Homosexuellen geachtet werden.
Die aktuelle Flüchtlingssituation ist stark mit Emotionen verbunden. Ohne ein starkes Wir-Gefühl werden wir die Integration nicht schaffen. Die derzeit durch Deutschland laufende Welle der Solidarität ist ein ganz wesentlicher Impuls, der sowohl bei den Helfenden als auch bei den Ankommenden noch einige Zeit nachwirken wird. Auf das bewegende „Refugees welcome“ muss über kurz oder lang das „Ihr gehört dazu“ folgen.
Wir wollen, dass diese Menschen Deutsche werden und sie sich dazu bekennen können. Deutschland soll ihnen nicht nur Zuflucht sein, sondern eine Heimat werden. Wir brauchen einen Spirit, der alle unsere Institutionen durchweht – die Ämter, die Schulen, die Universitäten. Wir brauchen diesen Geist, der sagt: Wir wollen diese Integration und wir wollen dieses Bekenntnis. Kurzum: Wir brauchen ein neues Bekenntnis zu unserem Land.
Ich finde es absurd, dass Vertriebene all ihre Hoffnungen auf Deutschland richten und für sie Deutschland die ersehnte Zuflucht ist. Doch wenn sie hier ankommen, erleben sie, wie Deutsche sich schwertun, sich zum Deutschsein zu bekennen. Zuwandererkinder, die unbefangen sagen möchten, dass sie jetzt Deutsche sind, erleben den Unmut von anderen. Damit bekommt das kritische Bewusstsein gegenüber allem Nationalen etwas Ausschließendes. Gerade Menschen, die in ein fremdes Land einwandern und in diesem Land über mehrere Generationen hinweg leben wollen, sehnen sich nach einem Gefühl der Zugehörigkeit, einem Gefühl von Heimat. Und das ist nicht das Problem der Zuwanderer. Nein, die gesamte Gesellschaft braucht dazu eine Selbstvergewisserung.
Kiffende Nazis
Was ist deutsch? Die Fußballnationalmannschaft? Schrebergarten, Jägerzaun und Gartenzwerg? Eine Frau als Bundeskanzlerin? Mülltrennung? Currywurst und Kebab? Mit „entspannte Patrioten“ meine ich nicht kiffende Nazis, sondern einen Patriotismus, der nicht ausgrenzt. Ich meine einen Patriotismus, der „Willkommen!“ sagt. Ich meine einen Patriotismus, der in schwierigen Zeiten ein Bekenntnis zu Europa beinhaltet.
Und ja, es gibt die historische Dimension des Begriffes. Aber die Tatsache, dass Staat und Gesellschaft in der Lage sind, fast 1.000.000 Menschen aufzunehmen, hätte ein Bekenntnis zu diesem Land verdient.
Die Flüchtlingssituation direkt vor unserer Haustür hat zu einer Repolitisierung unserer Gesellschaft geführt. Viele private Gespräche kreisen um dieses Thema: Wie hältst du es mit den Flüchtlingen? Was kann man eigentlich tun? Diese Chance sollten wir ergreifen und für eine Selbstvergewisserung nutzen.
Deutschland wird es nur schaffen, für die Vertriebenen eine Heimat zu werden, wenn wir uns zu unserem Land bekennen können, wenn sowohl staatliche Stellen als auch die Zivilgesellschaft ihren Beitrag leisten. Ich möchte den Begriff Patriotismus nicht länger den Nazis, Rechtsextremen, AfDlern und anderen Ewiggestrigen überlassen. Anjes Tjarks
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