Bielefeld Mit einem unterhaltsamen Arbeitsbuch motivieren sich nachhaltig wirtschaftende Nachbarn, Energie zu sparen und die Haushaltskasse zu entlasten: Spaß in Ostwestfalen
Von Stephanie Ristig-Bresser
Repair Cafés, regionale Kochgruppen, Gemeinschaftsgärten, AG Innerer Wandel – als der Diplom-Agraringenieur Reinhold Poier zur „Transition Town Bielefeld“ stieß, erschien ihm das wie ein Sammelsurium netter, aber zusammenhangloser Gruppenaktivitäten. Dabei hatte er doch gehört, dass es bei den Transition Towns um den Klimawandel und einen postfossilen Lebensstil gehen sollte. Inzwischen findet Poier, dass das alles zusammen gehört und gestaltet eifrig mit.
Der entscheidende Impuls für ihn war ein Bericht über die „Transition Streets“ im südenglischen Totnes. Dort treffen sich Straßennachbarn und -nachbarinnen seit 2007, um sich gegenseitig zu ermutigen, sich für eine zukunftsfähige Stadt zu engagieren. Jeder bekommt ein praxisnahes Arbeitsbuch, in dem Tipps zum Energie- und Wassersparen wie zur Versorgung mit Produkten aus der Region oder Sprit sparender Mobilität zu finden sind. „Es ist eine praktische Anleitung für Aktivitäten im eigenen Haushalt, und es macht Spaß, damit zu arbeiten“, sagt Poier.
Die Nachbarn stellen sich aus dem Arbeitsbuch einen konkreten Aktionsplan zusammen, geben sich Feedback, motivieren sich gegenseitig und feiern gemeinsam die Erfolge. Da geht es um den Einkauf von Lebensmitteln aus der Region, die Wahl einer möglichst niedrigen Temperatur beim Wäschewaschen oder die Nutzung des Fahrrads für kurze Wege. „In kleinen Schritten, die man leicht in seinen Alltag einbauen kann, kann jeder Haushalt mit diesem Programm 1,3 bis 1,5 Tonnen CO2 pro Jahr vermeiden und etwa 500 bis 700 Euro sparen – ohne dass man auf etwas verzichten muss, nur durch weniger Verschwendung“, fasst Poier zusammen. Für die meisten Teilnehmer*innen sei aber wohl am wichtigsten, auf diesem Weg ihre Nachbarschaft zu stärken, gemeinsam Spaß zu haben und ab und zu zusammen zu feiern, vermutet der 57-Jährige.
Der Bericht über die Erfolge in Totnes elektrisierte Reinhold Poier, und mit seiner Begeisterung steckte er einige weitere Bielefelder Transition-Aktivist*innen an. Sie übersetzten das Handbuch und passten es an die Bielefelder Gegebenheiten an. So finden sich darin zahlreich lokale Adressen, beispielsweise auch eine Übersicht aller Wochenmärkte. Danach unterzog eine Pilotgruppe das Werk einem teaminternen TÜV, korrigierte Fehler und Ungereimtheiten und taufte das Projekt nach längerer Diskussion „NaNa“ – Nachhaltige Nachbarschaften.
Unter dem Motto „Einfach. Jetzt. Machen“ erprobt die Transition-Bewegung mit optimistischem Pioniergeist seit knapp zehn Jahren praktische Antworten auf Ressourcenknappheit, Klimawandel und die Grenzen des Wachstums. Die Keimzelle liegt im britischen Totnes, der ersten „Transition-Town“. Dort entwickelte der Permakultur-Dozent und Autor Rob Hopkins gemeinsam mit anderen Aktivist*innen ein Konzept, um seine Heimatstadt zukunftsfähig zu machen. Mittlerweile gibt es weltweit geschätzt 4.000 Transition-Initiativen in rund 50 Ländern. Jede lokale Initiative wählt eigene Schwerpunkte – ganz nach Neigung, Bedarf, Talent und Vorlieben. Im Zentrum stehen Relokalisierung der Wirtschaft, Klima- und Ressourcenschutz, Ernährungssouveränität und Gemeinschaftsbildung vor Ort.
www.transitionnetwork.com
www.transition-initiativen.de
Seit einigen Monaten ist der Prototyp des Arbeitsbuchs reif für die Serienproduktion, demnächst soll es Open Source im Netz stehen. Als schwerfällig erweist sich bisher die Unterstützung durch die Stadt trotz ambitionierter Klimaschutzziele. Immerhin gibt es nun ein kleines Budget aus einem Verfügungsfonds.
Eine erste NaNa-Gruppe im Bielefelder Ostmannturm-Viertel hat inzwischen losgelegt, vier weitere Gruppen werden bis Ende Oktober das Programm durchlaufen haben. Schon zieht das Projekt Kreise: Im Quartiersbüro trafen Poier und seine Mitstreiter*innen auf die Stadtteil-Mütter, die das Handbuch ins Türkische übersetzen wollen. Stadtteil-Mütter aus anderen Kulturen erwägen, mit der englischen Version zu arbeiten. 30 Transition-Town-Initiativen aus dem deutschsprachigen Raum haben in Bielefeld angeklopft, weil sie das Manuskript für ihre Orte anpassen möchten. Manche hätten damit bereits begonnen, berichtet Poier und blickt in die Zukunft: „Wenn nur eine Million Haushalte in Deutschland mit dem Programm arbeiten würden – dann könnten wir jährlich die unfassbare Summe von 1,3 Millionen Tonnen CO2 vermeiden.“
Die Autorin engagiert sich im Koordinierungskreis, dem Entscheidungsgremium des deutschen Transition-Netzwerks
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen