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Freude schöner Götterfunken

Hilfe Auf dem Münchner Hauptbahnhof kommen am Wochenende mehr als zehntausend Flüchtlinge an. Die Hilfsbereitschaftder Münchner ist überwältigend, die Betreuung professionell. Die CSU kritisiert Angela Merkels Zustimmung zur Aufnahme

AUS MÜNCHEN Jana Felgenhauer

Josephina, ein vierjähriges Mädchen mit blondem Pferdeschwanz, steckt eine Puppe durch ein Absperrgitter. Ihr gegenüber sitzt ein Flüchtlingsmädchen auf einer Reisetasche. Auch sie kommt mit vielen anderen am Münchner Hauptbahnhof an. Das Mädchen schaut skeptisch auf die Puppe, ein pinkfarbenes Etwas mit Prinzessinenkrone. Es dauert eine Weile, doch dann steht sie auf und schnappt sich das Spielzeug. Josephina dreht sich zu ihrer Mutter um und lacht. Die trägt eine große Ein­kaufs­tasche mit Drogerieartikeln bei sich und eine Tüte voller Spielsachen und Kinderkleidung, Spenden, die sie privat gesammelt hat. Zwar hat die Polizei vor ein paar Tagen verkündet, dass keine Spenden mehr gebraucht werden, doch vielen Münchnern ist das egal. Sie bringen weiterhin Plüschtiere, Kleidung, Getränke und Windeln an den Hauptbahnhof – und wollen sie den Flüchtlingen am liebsten persönlich in die Hand drücken. So auch die Schwestern Nian und Marzi, die Samstag gegen 22.30 Uhr noch in der Bahnhofshalle stehen, kalten Wind im Haar, und seit Stunden Geschenke an Flüchtlinge verteilen. Sie haben Päckchen gepackt mit Süßigkeiten und Hygieneartikeln. „Wir sind selbst mit unseren Eltern aus dem Irak geflohen, da waren wir sechs und ein Jahr alt“, erzählt Nian, die in München BWL studiert. „Deshalb sehen wir es als unsere Pflicht an, jetzt zu helfen.“

Essen und Kleidung gibt es am Hauptbahnhof genug. Doch die Flüchtlinge wollen auch ihren besorgten Familien und Freunden sagen, dass es ihnen gut geht. Deshalb steht Nicole Britz in der Bahnhofshalle und hält „Free-WLAN-Schilder“ nach oben. Auf ihre Initiative hin wurden im Bahnhof Hotspots errichtet, mit denen die Flüchtlinge ins Internet kommen können. „Smartphones haben die meisten dabei“, sagt Britz.

Als am Samstagnachmittag gegen 15 Uhr der erste vollbesetzte Zug mit Flüchtlingen ankommt, drängen sich die Menschen an die Gitter und versuchen, den Angekommenen ihre Spenden in die Hand zu drücken – und erinnern dabei ein bisschen an Fans, die ihrem Star nah sein wollen. Klatschen, Jubel, ein Mann stimmt gar Beet­hovens „Freude schöner Götterfunken“ an. Auf der anderen Seite der Absperrungen laufen die Flüchtlinge vorbei: Mütter mit Säuglingen im Arm, Väter mit Kindern auf den Schultern, viele Jugendliche, ein älteres Ehepaar. Die Flüchtlinge tragen Turnschuhe, Kapuzenpullover, verwaschene Jeans und sehen aus, wie die meisten Menschen in deutschen Großstädten auch aussehen.

Sind die Flüchtlinge an den Absperrgittern vorbeigelaufen, gelangen sie zu einem abgeschirmten Bereich, wo sie von den Ersthelfern in neongelben Westen Wasser, Obst, Müsliriegel und Kleidung bekommen. Dann stehen sie für einen kurzen Medizin-Check an und werden anschließend auf Busse verteilt, die sie zu Erstaufnahmestellen bringen, etwa Messe- und Sporthallen.

„Wir sehen es als unsere Pflicht an, jetzt zu helfen“

Die Münchner Studentin Nian, die am Bahnhof Geschenke verteilt. Als Kind musste sie aus dem Irak fliehen

Wie Menschen anderen Menschen in Not helfen, dafür wurde München am Wochenende zum Symbol. Medien auf der ganzen Welt berichten vom Einsatz der vielen Ehrenamtlichen, vom Zusammenspiel von Polizei, Feuerwehr und dem Personal der Deutschen Bahn. Die CSU allerdings bewertet die von Angela Merkel initiierte Aufnahme alles andere als begeistert. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann bezeichnet die Einreiseerlaubnis als ein „falsches Signal“. Ministerpräsident Horst Seehofer fordert von der Kanzlerin beim Koalitionsgipfel eine klare Position. „Wir können nicht als Bundesrepublik bei 28 Mitgliedstaaten beinahe sämtliche Flüchtlinge aufnehmen. Das hält auf Dauer keine Gesellschaft aus.“ 6.780 Flüchtlinge sind allein am Samstag am Hauptbahnhof angekommen, am Sonntag sollten noch einmal 4.000 weitere folgen. Nicht alle werden hier bleiben, sondern auf andere Bundesländer verteilt. So wurden bisher 1.500 Menschen nach Dortmund gebracht, 650 nach Braunschweig und 470 nach Saalfeld in Thüringen.

Sonntagmittag appelliert Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter: „Es ist die uneingeschränkte Solidarität aller Bundesländer gefragt. Diese Unterstützung erwarte ich.“ Auf die Frage, wann München denn „am Limit“ sei, antwortet Reiter: „Letzte Woche dachten wir noch, 3.000 Personen überfordern uns, jetzt kamen fast 10.000 Leute an einem Tag. Wir beschäftigen uns also am besten nicht mit den Zahlen, sondern mit der Frage, wie wir die Leute am besten in ganz Deutschland verteilen können.“

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