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Endstation Bicske

Chaos Ein Zug mit hunderten Flüchtlingen fährt nicht wie geplant von Budapest nach Österreich, sondern wird in Bicske gestoppt. Dort befindet sich ein Auffanglager - für die Menschen ein Horror. Sie wehren sich

Aus Budapest und Bicske Martin Kaul, Erik Peter und Dinah Riese

Seine kleinen Kinderhände schlagen von innen immer wieder rhythmisch an das Zugfenster. Der kleine Junge, blaues T-Shirt, gefangen in dem grün-gelben Zugwaggon, verharrt schon seit einigen Stunden im Abteil hier auf dem Gleis. Er blickt auf Dutzende Journalisten, die ihre Kameras auf ihn richten.

Seine Mutter hat auf einem kleinen weißen Zettelchen Parolen auf Arabisch notiert, die sie aus dem Zugfenster hält. Aufgewühlte Männer halten ebenfalls einige DIN-A-4-Zettel aus dem Fenster. Darauf steht: „No camps“ und „Let’s go Germany!“

Aus der Fahrt nach Deutschland wird wohl heute nichts. Es geht nicht vorwärts und nicht zurück. Polizisten haben diesen Zug hier festgesetzt. Dutzende von ihnen umringen die Waggons, drinnen verharren einige hundert Fliehende.

Heute morgen waren sie noch hoffnungsfroh über die stählernen Gitterstufen hinauf in den Waggon gestiegen, inmitten eines Gedränges Hunderter Menschen. Sie dachten, sie könnten nach Wien ausreisen oder nach München, als sie problemlos den Bahnhof in Budapest-Keleti betreten konnten und keine Polizisten, sondern nur die tausend anderen Fliehenden im Gedränge sie daran hinderten, in den Zug zu steigen. Nun sind sie in Bicske.

Bicske, das ist ein trostloser Vorortbahnhof 40 Kilometer von Budapest entfernt, vom alten Bahnhofsgebäude blättert die weiße Farbe ab. Dieses Gleis ist an diesem Donnerstagnachmittag zur vorläufigen Endstation für einige hundert Fliehende geworden. Ganz hier in der Nähe befindet sich eines der größten Auffanglager Ungarns, das gleichzeitig ihre größte Angst ist. Viele der Menschen, die dieses Lager gesehen haben, berichten von Zuständen, die so katastrophal sind, dass sie rasch wieder von dort verschwunden sind. Etliche der Männer, Frauen und Kinder, die in diesem Zug sitzen, auch jene, die nun seit Tagen, teils seit Wochen ein paar Dutzend Kilometer entfernt vor dem Fernbahnhof Keleti in Budapest ausharren, sind aus diesem Lager zuvor geflohen. Lieber schlafen sie unter freiem Himmel, hoffen irgendwie darauf, nach Westeuropa zu gelangen.

Dabei wirkte es doch an diesem Donnerstagmorgen plötzlich noch, als sei ein Wunder geschehen, als um 8.48 Uhr am Ostbahnhof Keleti in Budapest ein Zug einfährt. Die dunkle Lok trägt einen Schriftzug in deutscher Sprache. „Europa ohne Grenzen seit 25 Jahren“. Kann das ein Sonderzug sein? Direkt weg von hier nach Deutschland? Wirklich? Nein, es ist keiner. Es ist ein zynischer Zufall. An anderer Stelle auf dem Zug ist eine Deutschlandfahne zu sehen und der Name von Konrad Adenauer. Der Zug war eine Falle, ein Zug ins Lager. Hier stehen sie nun also. Bicske. Schon vorher an diesem Tag gab es dramatische Szenen.

Viele Menschen, so berichtet es ein Reuters-Reporter, pressen sich zurück in die Waggons, als Polizisten sie aus dem Zug drängen wollen. Sie rufen „Kein Lager, kein Lager!“ Andere fliehen kurzerhand querfeldein. Ein Mann wirft sich mit seiner Familie auf die Gleise, er nimmt seine Frau in den Arm, presst sein kleines Baby, einige Monate alt, so fest an sich, wie er nur kann. Sie alle haben Angst, dann werden einige festgenommen und abgeführt.

Andere Züge, so heißt es aus Quellen, die schwer zu überprüfen sind, seien im österreichischen Grenzgebiet angekommen. Es müssen Regionalzüge sein, sämtliche Fernverbindungen, etwa vom Bahnhof Keleti sind bis auf Weiteres eingestellt worden, und so versuchen die Fliehenden in Pendelverbindungen ihr Glück. Ein weiterer Zug mit Flüchtlingen soll im westungarischen Györ gestoppt worden sein.

Wo und wie viele es wirklich schaffen, ist kaum zu überblicken. Der Wiener Polizeichef erklärt, Österreich werde den Menschen die Weiterreise erlauben. In München halten sich freiwillige Helfer und Behörden bereit, die ankommenden Menschen aufzunehmen. Doch da, wo derzeit die Welt hinblickt, herrschen nach wie vor Chaos und Ratlosigkeit.

Am Bahnhof in Budapest das gleiche Bild wie seit Tagen. Weiße Transporter, aus denen Lebensmittel an Fliehende verteilt werden sollen, werden gestürmt, ein Mann, der Bananen verteilen möchte, wird von 20 jungen Männern überfallen, binnen Sekunden ist seine große Tüte leer. Er steht einen Moment verdutzt da, als die jungen Männer wieder fort sind, als begreife er gar nicht, was gerade passiert ist. Dann blickt er auf den Boden und geht davon.

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