Feministisch grundiert

QUEER Mit „Blut an den Lippen“ (1971) hat Harry Kümel der lasziv-lesbischen Vampirfrau ein Denkmal gesetzt

Regisseur Kümel legte das unbestrittene Meisterwerk des queeren Vampirfilms der 70er Jahre vor Foto: H. Kümel und P. Drouot/2013 Filmjuwelen

von THOMAS GROH

Im klassischen Hollywood steht am Ende nach viel Hin und Her für gewöhnlich die Eheschließung. „Blut an den Lippen“, Belgiens Beitrag zum in den frühen 70ern florierenden Sub­genre des lesbischen Vampirfilms, setzt nun genau dort ein, wo Hollywood sich vornehm zurückzieht: Wenn die Ehe geschlossen, der Sex legitimiert ist und sich erste schwere Bewährungsproben aufbürden.

In „Blut an den Lippen“ also düsen anfangs die zwei frisch vermählten Eheleute Valerie und Stefan, gespielt von der ätherisch sanften Danielle Ouimet und dem machistisch-keck auftretenden John Karlen, im Nachtzug durch Belgien. Erst lieben sie sich, dann gesteht er ihr, sie im Grunde gar nicht zu lieben. Im Scherz wohl, aber noch mit genügend Ernst, um die Bruchstellen dieser fragilen Beziehung zu veranschaulichen. Wenig später in Brügge übt eine an einem Tatort sich bietende Leiche eine ungute Faszination auf ihn aus: Er wird gewalttätig, herrisch, manipulativ.

In Ostende ist Sackgasse: Sie landen in einem nahezu menschenverlassenen Hotel. Dort machen sie die Bekanntschaft mit der an Filmdivas erinnernde Gräfin Elisabeth von Bathory (umwerfend: Delphine Seyrig) und deren schmollmundiger Assistentin Ilona (Andrea Rau). Ihr Name weist sie als Nachfahrin der ungarischen Gräfin Bathory aus, die als „Blutgräfin“ in die europäische Folklore eingegangen ist: Ihre ewige Schönheit soll sie sich mit Bädern im Blut frisch getöteter Jungfrauen erhalten haben.

Im edlen Salon des Hotels entfaltet sich ein manipulatives Spiel. Bathory umgarnt mal Stefan, dann Valerie – und doch bleibt sie nur Zaungast der Katastrophe, in die Stefans zunehmend narzisstische Eskapaden die junge Ehe stürzt. Seit Sheridan Le Fanus Novelle „Carmilla“ (1872) zählt die lasziv-lesbische Vampirfrau zum europäischen Gruselinventar. Im Zuge der neuen Liberalität um 1970 nahm sich auch der Horrorfilm dieser Figur wieder an: Die ehrwürdigen Hammer Studios brachten die „Vampire Lovers“ ins Kino, der berüchtigt obsessive Jess Franco drehte am spanischen Strand seine „Vampyros Lesbos“, der französische Pulp-Surrealist Jean Rollin schuf gleich einen ganzen Werkzyklus. Das unbestrittene Meisterwerk dieser Welle legte allerdings der belgische Regisseur Harry Kümel vor.

Von Schmuddelkino-Appeal ist „Blut an den Lippen“ weitgehend frei: Statt Nacktheiten und Nervenkitzel begibt Kümel sich auf die Suche nach einer ganz eigenen, entrückten Poesie. Diese ist auch insofern queer, da sich die darin gefassten Fetischisierungen und Begehrensstrukturen kaum widerspruchsfrei auflösen lassen. Dass die lesbische Vampirfrau das heterosexuelle Liebesglück in Frage stellt, indem sie dem Mann die Frau entreißt, ist die eher reaktionäre Ausprägung des Motivs; in „Blut an den Lippen“ besteht aber kaum ein Zweifel daran, dass das wahre Grauen vom phallokratischen Herrschaftsanspruch eines Narzissten mit verdrängtem Gewaltüberschuss­potenzial ausgeht, dem gegenüber die geschmeidige Gräfin Bathory mit ihrer hedonistischen Position eine Art Utopie der uneindeutigen Souveränität skizziert.

Das wahre Grauen geht vom phallokratischen Herrschaftsanspruch eines gewalttätigen Narzissten aus

Auch wegen dieser feministischen Grundierung soll die im französischen Autorenfilm großgewordene Delphine Seyrig sofort zugesagt haben, als ihr die Rolle angeboten wurde. Der Film passt damit bestens in die queere Filmreihe „Homosexualität_en“, in deren Rahmen ihn das Zeughaus in Anwesenheit des Regisseurs präsentiert.

Neben solchen starken Positionierungen bietet „Blut an den Lippen“ dem Publikum aber auch schlicht sinnlichen Filmgenuss. Das Erzähltempo ist konzentriert; Kümel verfügt zudem über ein enorm sensibles ästhetisches Instrumentarium, das Eleganz und plötzliche Überrumpelung gleichermaßen unter einen Hut kriegt.

Nicht zuletzt machen die traumwandlerische Atmosphäre und insbesondere die starke musikalische Untermalung den Film zu einem Leckerbissen für Freunde der in den jüngeren Jahren unter dem Begriff „Hauntology“ versammelten, an allem Gespenstischen aus der Vergangenheit interessierten Subkultur: So schön ist der europäische Kunst-Horrorfilm mal gewesen.

„Blut an den Lippen“ (1971), Zeughauskino, 6. 9., 18 Uhr