Ganz profane Epiphanien

BONSAI-LITERATUR Clara Pauls schöne Anthologie „Überraschung!“ wirbt kongenial für die oft übersehene Gattung der Kürzestgeschichte

Kürzestgeschichten setzen auf kreative Kollaboration mit den Lesern

Die Kürzestgeschichte, short short oder very short story im angelsächsischen Sprachraum, ist eine reichlich paradoxe Gattung. Sie gibt vor, erzählen zu wollen, verweigert sich dem aber auch gleich wieder. Nicht von ungefähr ziehen einige der bekannteren Genrebeispiele sich selbst in Zweifel.

Sehnsucht

In Langnau im Emmental gab es ein Warenhaus. Das hieß Zur Stadt Paris. Ob das eine Geschichte ist?

Peter Bichsel nimmt diese Textlette als vollgültigen Beitrag auf in seinen „Geschichten“-Band „Zur Stadt Paris“. Man soll die Frage also bejahen.

Andere kapitulieren explizit vor der Aufgabe, einen richtigen Plot stricken zu sollen. Vom russischen Autor Daniil Charms etwa, einem Großmeister des Genres, gibt es Stücke, in denen geweckte narrative Erwartungen sogleich enttäuscht werden.

Halt!

Halt! Bleiben Sie stehen und hören Sie, was für eine erstaunliche Geschichte. Ich weiß nicht einmal, mit welchem Ende ich anfangen soll. Es ist einfach unwahrscheinlich.

Peter Handke jedoch bemüht den Konjunktiv, um auf das Potenzial der Kürzestgeschichte hinzuweisen, das zwar abrufbereit ist, aber eben auch erst einmal abgerufen werden muss.

Vor dem Fotoautomaten auf ein Foto warten; dann käme ein Foto mit einem anderen Gesicht heraus – so finge eine Geschichte an.

Alle Texte dieser kleinen Typologie der Kürzestgeschichte entstammen der von Clara Paul sehr kundig ausgewählten, noch dazu spottbilligen Anthologie „Überraschung! Die besten Sekundenstorys“. Paul findet das richtige Maß zwischen Klassikern (wie Bertolt Brecht, Franz Kafka, Julio Cortázar), namhaften Zeitgenossen wie David Albahari, Franz Hohler oder Peter Handke und schönen Entdeckungen wie ­Stuart Dybek, Brian Crawford oder Beat Gloor. Man könnte vielleicht sagen, Kürzestgeschichten liefern Anlässe, die unsere Fantasie erst noch zu veritablen Erzählungen arrondieren muss. Mit dem komplementären Kalkül, nur den Schluss einer Geschichte zu erzählen, in dem dann allerdings ihre narrativen Möglichkeiten gespeichert sind, gelingt es fast noch besser, die Imaginationsmaschine des Lesers anzuschmeißen. Richard Brautigan:

Das Scarlatti-Turnier

„Es ist sehr schwierig, in einer Atelierwohnung in San José mit einem Mann zu wohnen, der Geige spielen lernt.“

Das sagte sie zu den Polizisten, als sie ihnen den leeren Revolver gab.

Einige Kürzestgeschichten verweigern das Erzählen nicht grundsätzlich, sie verbieten sich nur ihre individuelle, konkrete Ausgestaltung. Zum Beispiel Margaret Atwoods titellose Bonsai-Tragödie: Begehrte ihn. Kriegte ihn. Scheiße.

Verzicht auf Ausschmückung ist hier nicht nur dem Gehalt gemäß, der offenbar nicht gern erzählt wird, er ist auch insofern plausibel, als es sich um eine menschliche Grundkonstellation handelt, die alle problemlos mit den entsprechenden Details ausstaffieren können.

Wahl des Häppchens

Es geht aber auch ohne besondere Komprimierungskunst, wenn der Erzähler einen entsprechend kleinen Wirklichkeitsausschnitt wählt. In der richtigen Wahl des Realitätshäppchens liegt die Schwierigkeit. Mindestens sollte es über sich hinausweisen. Im Idealfall beschreibt es eine Epiphanie, die auch sehr profan sein kann. Oder den Kairos, den totalen, erfüllten Moment. István Örkény – mit seinen „Minutennovellen“ gehört er zu den wenigen Autoren, wie etwa auch Peter Bichsel, Daniil Charms oder Ror Wolf, die nicht zuletzt ihrer Kürzestprosa wegen bekannt geworden sind – fasst diesen Zeitpunkt der Zeitlosigkeit allegorisch.

Unsterblichkeit

Er war nicht mehr jung, aber er hielt sich noch gut. Die Schilfbewohner kannten und fürchteten ihn, aber auch jenseits des Schilfs, aus nah und fern kannte ihn jedes vierbeinige Geschöpf. Seine Sehkraft ließ nicht nach, und wenn er aus tausend Metern Höhe seine Beute erspäht hatte, stürzte er auf sie herab wie der Hammer, der mit einem einzigen Schlag den Nagel einschlägt. Und so, in der Blüte seiner Jahre, im Vollbesitz seiner Kräfte blieb zwischen zwei langsamen Flügelschlägen plötzlich sein Herz stehen. Aber weder die Hasen noch die Ziesel, noch das Federvieh der angrenzenden Dörfer trauten sich hervorzuschlüpfen, denn er schwebte dort in tausend Metern Höhe mit seinen ausgebreiteten Flügeln, in drohender Unbeweglichkeit, zwei oder drei Minuten den Tod überlebend – bis der Wind aufhörte.

Der erfüllte Moment – das ist auch die Pointe, bei der dem Leser lachend die Uhr stehen bleibt. Und so nähern sich viele Kürzestgeschichten dem Witz, dem ungewaschenen, aus dem Mund riechenden Halbbruder der Epiphanie. So auch beim großartigen Stuart Dybek, dessen sich langsam mal ein deutscher Verlag annehmen könnte:

Lösegeld

Völlig abgebrannt und verzweifelt kidnappte ich mich selbst.

Lösegeldforderungen wurden an interessierte Dritte verschickt.

Später schickte ich auch Haare und Fingernägel.

Man bestand auf einem Ohr.

Über die Auswahl der Anthologie kann man streiten, dem einen fehlt dieser, dem anderen jener. Mir fehlen Peter Altenberg, Thomas Kapielski, die „Fachmänner“ von der Tita­nic, Lydia Davis. Dennoch bekommt man hier eine schöne Leistungsschau eines Genres, das wie kein zweites im Fach der erzählenden Prosa auf die kreative Kollaboration mit dem Leser setzt. Der Autor wirft einen Brühwürfel in den Topf, heißes Wasser müssen wir dann schon selber drübergießen. FRANK SCHÄFER

Clara Paul (Hg.): „Überraschung! Die besten Sekunden­­storys“. Insel, Berlin 2015, 192 Seiten, 6 Euro