Flucht in Europa

Das Bundesamt für Migration rechnet dieses Jahr mit 800.000 Flüchtlingen. Das wäre ein neuer Rekord. Wie reagiert die Politik?

Kretschmann korrigiert sich

Flüchtlingspolitik Regierungs-Grüne aus den Ländern wenden sich gegen die Idee, noch mehr Länder zu sicheren Herkunftsstaaten zu machen

BERLIN taz | Die Empörung war riesig, als Winfried Kretschmann im September 2014 die grüne Flüchtlingspolitik auf den Kopf stellte. „Schlichtweg falsch“, nannte Fraktionschef Anton Hofreiter sein Ja im Bundesrat zu einer Asylrechtsreform, die Bosnien-Herzegowina, Serbien und Mazedonien zu sicheren Herkunftsstaaten machte. Claudia Roth sprach von „Realitätsbeugung per Gesetz“, der Innenpolitiker Volker Beck wütete, man habe das „Menschenrecht auf Asyl für’n Appel und ’n Ei verdealt“.

Viele Grüne empfanden Kretschmanns Alleingang als GAU, für die Große Koalition war er ein Erfolg: Die Bundesregierung darf seither Flüchtlinge aus den drei Balkanstaaten unkompliziert abschieben lassen. Jetzt, ein knappes Jahr später, scheint Kretschmann seine Meinung geändert zu haben. In einer gemeinsamen Erklärung zur Flüchtlingspolitik wenden sich er und die acht Vizeregierungschefs der grün regierten Bundesländer gegen eine Ausweitung. „Von der Idee, weitere Länder als sichere Herkunftsländer auszuweisen, sind wir nicht überzeugt.“ Es gebe aktuell keine Erkenntnisse, dass diese Maßnahme im Falle von Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien eine signifikante Wirkung auf die Zahl der Anträge oder die Verfahrensdauer hatte, heißt es in dem Papier. Weitere Länder für sicher zu erklären, sei „Symbolpolitik“.

Die Haltung der grün regierten Länder in dieser Frage ist entscheidend. Die Bundesregierung würde gern auch Kosovo, Albanien und Montenegro als „sicher“ einstufen. Sie verspricht sich davon sinkende Asylbewerberzahlen. Für ein Gesetz bräuchte sie die Zustimmung des Bundesrats, also auch positive Voten aus grün regierten Ländern. Das scheint nun perdu. Allerdings beendet der Aufschlag der Länder die Diskussion noch nicht. Das Papier verkündet lediglich einen Kompromiss, der den internen Streit vorläufig befriedet.

Baden-Württembergs Grüne sind nach wie vor offen für das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten, in Hessen sieht man das ähnlich. Andere Landes-Grüne, etwa in Nordrhein-Westfalen oder Rheinland-Pfalz, lehnen es ab. Das Konzept schränke das individuelle Grundrecht auf Asyl deutlich ein, so das Argument . Das Papier nimmt auf beide Positionen Rücksicht: „Nicht überzeugt“ ist eine weiche Formulierung, in der sich alle Kontrahenten wiederfinden. Zudem verweist das Papier auf fehlende Erkenntnisse zur Wirkung der Maßnahme. Falls die Bundesregierung irgendwann belastbare Zahlen liefert, könnte den Grünen die Neuauflage des Streits drohen.

Luise Amtsberg, die Flüchtlingsexpertin der Bundestagsfraktion, lobte den Aufschlag. „Es ist richtig, dass wir die hochideologische Debatte ad acta legen.“ Stattdessen müssten sich die Grünen auf sinnvolle Maßnahmen konzentrieren. Das Papier listet eine Reihe von Vorschlägen auf. So wollen die Landes-Grünen Flüchtlingen aus den West­bal­kan­ländern legale Zugänge zum deutschen Arbeitsmarkt öffnen, da sie in Asylverfahren fast chancenlos sind. Arbeitskräften aus diesen Staaten müsse eine zeitlich ­befristete Aufenthaltsmöglichkeit eingeräumt werden, damit sie einen Arbeitsplatz suchen könnten, so der Vorschlag. „Für die Wirtschaft ist irrelevant, welche Na­tio­nalität eine dringend gesuchte Fachkraft hat.“

Ulrich Schulte

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