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Die Willkür des Attentats verbreitet Schrecken

Frankreich Der marokkanische Attentäter bestreitet, ein Terrorist in den Diensten des Islamischen Staates zu sein. Angeblich wollte er nur die Zugreisenden ausrauben. Das beherzte Eingreifen mehrerer Mitreisender, darunter Soldaten, verhindert Schlimmeres

Diese drei Männer wurden für ihr Eingreifen mit der Medaille von Arras ausgezeichnet Foto: Arras City Hall / ap

Aus Paris Rudolf Balmer

Die Passagiere des TGV Thalys 9364 von Amsterdam wollten sich lieber nicht ausmalen, was hätte passieren können, wenn der in Brüssel zugestiegene 26-jährige Marokkaner seine mutmaßlichen Attentatspläne verwirklicht hätte. Er war auf jeden Fall schwer bewaffnet. Er hatte eine Kalaschnikow vom Typ AK-47 mit neun Magazinen, eine Luger-Pistole und ein Messer bei sich. Die anderen Passagiere im Wagen Nr. 12 dagegen waren unbewaffnet und rechneten bestimmt nicht im Traum damit, dass jemand ein Massaker unter ihnen anzurichten dachte. Im Nachhinein denken sie mit Dankbarkeit an die Mitreisenden, die mit ihrem kaltblütigen Eingreifen wohl das Schlimmste verhindert haben.

Zum genauen Ablauf der Ereignisse kurz vor 18 Uhr auf der Bahnstrecke vor der nordfranzösischen Stadt Arras gibt es mehrere Schilderungen von Augenzeugen, die ein wenig variieren. Klar ist nur, dass es mehreren Passagieren, unter ihnen zwei US-Militärs in Zivil, gelungen ist, einen Mann zu überwältigen, der sie mit einer Kalaschnikow bedrohte. Der 28-jährige Franzose Damien A. reagierte ohne lange zu überlegen, als er vor der Toilettentür einem Mann gegenüber stand, der eine automatische Waffe trug. Er versuchte ihm diese zu entringen, fiel beim Handgemenge aber zu Boden, ein Schuss aus der Kalaschnikow verletzte einen unbeteiligten Reisenden. Danach scheint sich die Waffe zum Glück verklemmt zu haben.

„Schnappe ihn dir“, rief in diesem Moment Alek S. seinem Reisegefährten Spencer S. zu, der sich ohne zu zögern auf den Angreifer warf, um ihn zu entwaffnen. Beide sind amerikanische Militärs, die in zivil reisten. Sie erzählten danach, sie hätten schon Verdacht geschöpft, weil sie gehört hätten, wie jemand mit einer Waffe lautstarke Ladebewegungen gemacht habe.

Bevor es ihnen mithilfe weiterer Passagiere gelang, den mutmaßlichen Terroristen gänzlich zu überwältigen und zu fesseln, wurde Spencer S. von diesem noch mit einem Messer verwundet. Mit einem Smartphone aufgenommene Videobilder dieses mutigen Eingreifens zirkulieren bereits im Internet. Man sieht darauf den blutenden Spencer S. und den am Boden liegenden Marokkaner, dessen Hände und Füße auf dem Rücken gebunden sind. Die beiden Soldaten und ein britischer Staatsangehöriger sind wegen ihres Eingreifens von der Stadt Arras mit Medaille für Zivilcourage ausgezeichnet worden.

Am Montag werden diese Helden dann auch von Staatspräsident François Hollande empfangen, der in einem Telefonat Amtskollegen Barack Obama die Dankbarkeit der Nation versicherte. Leicht verletzt wurde auch der französische Schauspieler Jean-Hughes Anglade, der die Notbremse zog. Er machte dem Zugpersonal schwere Vorwürfe, das sich hinter einer verriegelten Türe in Sicherheit gebracht habe.

Im Bahnhof von Arras wurde der mutmaßliche Terrorist der Polizei übergeben. Er nannte seinen Namen, Ayoub El-Khazzani, sein Alter (26) und seine Herkunft, stellte aber in Abrede, einen Terroranschlag geplant zu haben. Seit der ersten Befragung durch die Beamten der Antiterrorismusbrigade gibt er gemäß französischen Medien an, er habe die Waffen in einem Park in Brüssel gefunden und vorgehabt, damit die TGV-Reisenden zu berauben. In Frankreich stand El-Khazzani dank Informationen der spanischen Nachrichtendienste ab 2014 auf einer Liste von Verdächtigen.

Der Attentäter sagt, er habe die Waffen in einem Park in Brüssel gefunden

Inzwischen ist bekannt, dass er 2007 aus Nordmarokko nach Spanien kam und dort wegen Drogenhandels zwei Mal verurteilt wurde. In Algesiras besuchte er eine Moschee radikaler Salafisten und zog so die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich. Im Mai 2015 soll er aus Berlin nach Istanbul geflogen sein, von wo er eventuell nach Syrien gereist sei. Dies bestreitet er vehement. Im Verhör bezeichnet er sich als Obdachloser, der sich zuletzt in Belgien aufgehalten habe.

Auf der Suche nach Komplizen überprüfen die Behörden in Brüssel auch, ob er Kontakte zur im Januar zerschlagenen Terroristengruppe in Verviers gehabt haben könnte. In den TGV-Zügen wurden die Polizeipatrouillen verstärkt. Der Vorsitzende der französische Bahn SNCF, Guillaume Pépy, schloss aber eine systematische Kontrolle der Reisenden wie am Flugterminal als unrealistisch aus.

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