: Schräge Fiktionen
KUNST Zwischen Glas gepresste Blattskelette oder Zeichnungen von Georg Forster – naturwissenschaftliche Sammlungen dienten als Anregung für KünstlerInnen, die im Tieranatomischen Theater ausstellen
von Tom Mustroph
Es gab Zeiten, in denen Wissenschaft noch aus dem Sammeln, Studieren und Analysieren von Objekten bestand und die gewonnenen Erkenntnisse selbst, aber nicht deren Zitationshäufigkeit als Ausweis der Arbeit gewertet wurden. In diese fern vergangene Ära weisen die Naturhistorischen Sammlungen der Humboldt-Universität.
Gesteine und Kristalle gehören zu ihnen, Skelette und präparierte Gewebe, Samen und lebende Pflanzen. In diese Schatzkammern durften im Rahmen des Projekts „On the Edge“ sieben Künstlerinnen und Künstler hineinblicken und sich von den Objekten inspirieren lassen. Ihre Ausstellung findet in dem Gebäude statt, das in Berlin am spektakulärsten die beiden Zweige der Ästhetik – verstanden als Lehre von der Schönheit und Lehre von der Wahrnehmung – vereint: dem Tieranatomischen Theater. Carl Gotthard Langhans, Baumeister des Brandenburger Tors, errichtete den die Antike zitierenden Rundbau für Anatomen, die vor gelehrtem Publikum im Hörsaal Pferde und Rinder auseinanderschnitten.
Ein tieranatomisches Objekt ist mit „On the Edge“ an diesen Ort zurückgekehrt. Ein sechs Meter langer Bandwurm in 29 Windungen etwa hat es Andrea Roe angetan. Sie stellt den hohen Zylinder, in dem der Parasit aufbewahrt wird, in das Zentrum ihrer Arbeit. Bandwurmgleiche Strukturen bringt sie nun auf Textil und ätzt den Wurm auch auf eine Manschette.
Als Inspirationsquelle für eigene Formenspiele nutzt Simon Faithfull einige Objekte aus der Pflanzensammlung der HU. Sogenannte Blattskelette – zwischen Glas gepresste Blätter von Laubbäumen, die die Struktur besonders hervortreten lassen – treten mit seinen Pflanzenzeichnungen in einen Dialog.
Nicole Schuck wiederum erinnert daran, dass künstlerische Techniken einst zur Wissenschaft dazugehörten; Georg Forsters Zeichnungen all der Pflanzen, Tiere und Menschen, denen er bei der Weltumsegelung mit James Cook begegnete, haben neben wissenschaftlichem auch ästhetischen Wert. Schuck entwickelt per Zeichenstift neue Fabelwesen, die durchaus zoologischen Gesetzmäßigkeiten entsprechen.
Einer anderen – und strukturell interessanteren - Traditionslinie der Berührung von Kunst und Wissenschaft folgen zwei andere Teilnehmerinnen. Sie operieren mit der aktuellen Funktionsbeschreibung des Künstlers als Experimentator und Forscher und gehen damit über die klassische Zuschreibung als Objekte- oder Bildermacher weit hinaus. Annie Cattrell etwa entwickelt Fototechniken, um das Innere des Menschen zur Darstellung zu bringen. Sie leitet Licht in Schädel ein – auch in den eigenen und die von Familienmitgliedern – und stellt Fotogramme aus, die den Weg des Lichts durch die Nervenzellen erkennbar machen und so Schädel- und Hirnstrukturen selbst ins Bild setzen. Der lichtdurchflutete Schädel wird im Wortsinne zur Glühbirne.
Agnes Meyer-Brandis hingegen beschäftigt sich mit Pflanzen. Sie untersucht Migrationsgeschwindigkeiten von Pflanzenarten – und hilft dabei manchmal schelmisch nach, indem sie sich selbst als Nadelgehölz in einen Wald stellt. Sie untersucht aber auch Ausbreitungsgeschwindigkeiten von Pflanzen. In einem spannenden Schnittpunkt von Unternehmertum, Grundlagenforschung und Wissenschaftsironie arbeitet sie daran, Baumparfüms herzustellen. Sie versucht, Ausdünstungen von Pflanzen aufzuspüren und sie mit Sauggeräten einzufangen, zu analysieren und zu stabilisieren, um in Zukunft sogar ein Produkt herstellen zu können. Was jetzt noch wie eine schräge Fiktion anmutet, könnte in Zukunft ein ganzer Industriezweig sein.
„On the Edge“ bietet einige interessante Grenzüberschreitungen an. Schade ist allerdings, dass nur Meyer-Brandis und Cattrell die Einladung zum Streifzug durch die Sammlungen so verstanden, selbst als Künstler-Experimentator zu agieren. Das Gros ihrer Kolleginnen und Kollegen blieb in der Position des faszinierten Betrachters stecken.
On the Edge, bis 13. 9., Tieranatomisches Theater, Philippstr. 12/13, Haus 3, Di.–Sa. 14–18 Uhr
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