Fortschritt IV Ein Gespräch mit dem Philosophen Markus Gabriel über den Anspruch auf Gleichheit, der permanent erkämpft werden muss
: „Ich will nicht zu Aristoteles’ Zahnarzt gehen müssen“

Dank unseres Wohlstands ist das Ideal der Gleichheit in Deutschland allgemein akzeptiert. Menschen in Berlin Foto: Paul Langrock/Zenit

Interview Hannes Koch

taz: Herr Gabriel, viele Menschen glauben heute nicht mehr, dass es ihren Kindern besser gehen wird als ihnen selbst. Halten Sie diese pessimistische Grundstimmung für begründet, oder können wir weiter auf Fortschritt hoffen?

Markus Gabriel: In der Aufbruchstimmung der 1950er bis 1970er Jahre ging man davon aus, dass die materielle Ausstattung und Lebensqualität mit jeder Generation zunehme, wenn sich die jungen Leute gut benehmen und bestimmte systemkonforme Wege einhalten. Dieser Prozess funktioniert heute nicht mehr richtig. Außerdem hat sich gezeigt, dass das Wachstum der Vergangenheit auf Ungleichheit abgestellt war. Theo­retisch nahm man zwar an, jeder könne einen ähnlichen Standard erreichen. Faktisch haben aber diejenigen, die besonders geschickt im Spiel waren, viel mehr Reichtum angesammelt als der Durchschnitt der Bevölkerung.

Sie teilen die zeitgenössische Skepsis also?

Im Gegenteil, ich bin eher Optimist. Wenn wir mittlerweile Zweifel am bisherigen Weg hegen und die Ungleichheit in den Fokus der Kritik rückt, hat das auch damit zu tun, dass wir nun ein höheres Ideal von Gleichheit verfolgen.

Die aktuelle Sozialkritik fußt aber auf Fakten: 16 Prozent Arme gibt es in Deutschland ja wirklich.

Stimmt. Aber auch aus einem anderen Grund beschäftigt uns dieser Umstand mehr als früher: Das Ziel der Gleichheit löst die alten Idealvorstellungen ab. Deshalb meine ich, wir sind auf einem guten Weg.

Wie kommt dieser Paradigmenwechsel zustande?

Die deutsche Gesellschaft hat inzwischen einen so grundrespektablen Wohlstand erreicht, dass wir uns neuen Fragen widmen können und müssen. Solche Fortentwicklungen sieht man auch an anderer Stelle: Wir leben in Europa in mehr oder weniger gewaltfreien Gesellschaften – in dem Sinne, dass es kaum noch zu körperlicher Gewalt kommt. In unseren Großstädten lebt man viel sicherer als etwa in den USA oder in Brasilien. Deshalb beginnen wir uns zu fragen: Was ist mit psychischer Gewalt – Diskriminierung, Burn-out, Mobbing? Wir haben jetzt Phänomene im Blick, die uns vorher nicht aufgefallen sind, weil wir erst mal die harten Probleme zu klären hatten. Fortschritt funktioniert ja immer so, dass an irgendeiner Stelle ein neues Spiel beginnt.

Ist das ein dialektischer Prozess?

Ja, denn Fortschritt ist keine Linie. Die Menschen folgen nicht zu allen Zeiten derselben Idee. Eher ist es so: Während die Gesellschaft einem Ideal nahe zu kommen versucht, zeigt sich, dass diese Zielvorstellung teilweise gegen sich selbst gerichtet ist. Ein Beispiel: das Wirtschaftswunder-Versprechen „Wohlstand für alle“. Obwohl alle profitieren sollten, besaßen einige bald viel mehr als andere. Dadurch entstehen Konflikte. Die Gesellschaft muss sich entscheiden: Was ist wichtiger – Wohlstand oder alle? Da trennen sich die Wege. Ich glaube, dass wir uns erfreulicherweise für mehr Umverteilung des Wohlstands entschieden haben und nicht einfach nur für weiteres materielles Wachstum.

Auf dem letzten G-7-Gipfel haben die Regierungen beschlossen, bis 2030 weltweit die krassesten Formen der Armut zu beseitigen. Ist das ein Fortschritt, wie Sie ihn meinen?

Das beweist zweierlei. Theoretisch ist die Norm anerkannt, dass allen Menschen das gleiche Recht auf eine materielle Grundausstattung zukommt. Das ist schon mal großartig. Schlimm wäre es, in einer Gesellschaft zu leben, in der die Mächtigen diesen Anspruch grundsätzlich bestreiten. Da die Norm der Gleichheit aber abstrakt ist, muss sie immer wieder neu gefüllt werden. Und das geht nur durch Widerstand und Kampf. Der französische Philosoph Jacques Rancière sagt: Politik heißt, denen eine Stimme zu geben, die keine haben. Weil die Eliten ihre Stimme und ihren Einfluss jedoch nicht abgeben wollen, muss Fortschritt permanent erkämpft werden – auch der Anspruch auf Gleichheit.

Bereits seit der Französischen Revolution sind gleiche politische und soziale Rechte als fundamentale Werte anerkannt. Warum kommt nun ein neuer Schub?

Das halte ich für ein Ergebnis der deutschen Revolution von 1989. Durch die Wiedervereinigung hat unsere jetzige Gesellschaft gewisse Ideale des Sozialismus aus der untergegangenen DDR inkorporiert.

Eine deutsche Besonderheit, die für andere europäische Länder so nicht gilt?

Fortschrittsgespräch

Foto: privat

Markus Gabriel, 35, ist Professor für Philosophie in Bonn. Sein neues Buch „Ich ist nicht Gehirn“ kommt im Herbst im Ullstein-Verlag. Interviews zum Thema Fortschritt erschienen zuvor mit Claus Leggewie, Barbara Muraca sowie Jana Gebauer.

In Großbritannien, wo ich kürzlich an einem Kongress teilnahm, sprach ich mit der Shuttle-Fahrerin, die mich hinbrachte. Sie erzählte, dass sie in einem weiteren Job arbeitet, bei dem sie Toiletten putzt. Und sie war überrascht, dass ich als Philosophie-Professor überhaupt mit ihr rede. Ein englischer Professor, sagte sie, würde das kaum tun. Wenn es sich nicht vermeiden ließe, würde er ein Englisch mit einem Oxford-Elite-Akzent auflegen, um ihr das Gefühl zu geben, sie sei der Sprache nicht richtig mächtig. Solche Klassenunterschiede haben wir in Deutschland nicht – was ich auch als eine Folge des Sozialismus im eigenen Land sowie der weitgehenden Abwesenheit einer über alle Teile der Gesellschaft wachenden Monarchie und Aristokratie in der deutschen Geschichte betrachte.

Im 18. Jahrhundert bildete sich der Fortschrittsbegriff der Aufklärung heraus. Aus der Vogelperspektive betrachtet wird das Leben der Individuen und der Gesellschaft dank Wissenschaft, Technik und Demokratie immer besser. Dagegen postuliert Kulturwissenschaftler Claus Leggewie, Fortschritt dürfe nicht mehr gleichgesetzt werden mit Wirtschaftswachstum und zusätzlicher Technik. Stimmen Sie dem zu?

Der unreflektierte Glaube an Wachstum und Technik hat sich tatsächlich überlebt. Trotzdem halte ich das zivilisatorische Modell der Moderne – Technik plus Wissenschaft plus Ökonomie – noch für richtig. Denn ich will nicht zu Aristoteles’ Zahnarzt gehen müssen. Zu Recht beanspruche ich eine schmerzfreie Zahnbehandlung – wie alle anderen auch. Den Fortschritt in der Dentaltechnik halte ich für ebenso begrüßenswert wie in der medizinischen Gentechnik, den Neurowissenschaften und anderen Sparten. Ich glaube nicht, dass es etwas gibt, das wir nicht erforschen sollten. Nötig ist allerdings immer die kritische Überprüfung, die selbst kein naturwissenschaftlicher oder technischer Vorgang ist. Deswegen ist ein nächster Fortschritt der, den Geistes- und Sozialwissenschaften eine zentrale Reflexionsstelle in der Gesellschaft zuzuweisen. Mit Technik kann man über Technik nicht nachdenken.

Der technisch-wissenschaftliche Fortschritt muss weitergehen, um die Lebensqualität der Individuen zu steigern?

Denn die wichtigste Einsicht der Moderne ist: Wir haben keine Seele, die als Entität unseren Tod überdauert. Der Mensch lebt nur einmal, niemand ist unsterblich. Wer etwas anderes für wahr hält, den lassen wir in diesem Aberglauben, solange er die Mitmenschen damit nicht bedroht. Diese fundamentale Einsicht bedeutet, dass jeder Schmerz, den ich erleide, unendlich schlecht ist, quasi für die Ewigkeit schlecht. Man kann ihn nicht im nächsten Leben wiedergutmachen. Das meinte Friedrich Nietzsche, als er über die „ewige Wiederkehr des Gleichen“ schrieb. Für einen Menschen, der nur einmal lebt, ist alles, was geschieht, so wichtig, als würde es immer wieder passieren. So müssen wir alles daransetzen, schmerzfreie, gelingende Leben zu ermöglichen – auch mittels der Wissenschaft.

Wo noch ist Fortschritt heute dringend nötig?

Wir müssen die Menschenrechte ernster nehmen. Diese gelten nicht nur für die Einwohner Deutschlands. Die kosmopolitischen Bürgerrechte der Menschenwürde, freie Wahl des Wohnorts oder körperliche Unversehrtheit können selbstverständlich auch die Menschen in Anspruch nehmen, die über das Mittelmeer zu uns kommen. Wir sollten lernen, die sogenannten Flüchtlinge anders anzuschauen. Deutsche Emigranten, die in Südportugal leben, bezeichnen wir nicht als Flüchtlinge.

Sondern als Auswanderer, wie die Millionen Deutschen, die im 19. Jahrhundert die USA mit aufgebaut haben.

Das Wort Flüchtling ist gefärbt. Man stellt sich Schwarze vor, die aus der Wüste kommen und Terroristen werden könnten. Nennen wir diese Menschen hingegen Auswanderer, schwingt darin ein Bild der Gleichheit mit.

Die Regierungen Chinas, Russlands, zuweilen auch die türkische Regierung bestreiten den universellen Charakter der Menschenrechte und bezeichnen sie als westliche Werte. Was sagen Sie dazu?

Gleichheit, Meinungs- und Religionsfreiheit und die übrigen Grundrechte sind allgemeine Rechte, die allen Menschen zustehen. Eine akzeptable Begründung, sie einzuschränken, existiert nicht. Zwei plus zwei ist auch in China vier. Das hat nichts mit Westen zu tun.

„Wir sollten die ­Menschenrechte ernster nehmen. Sie gelten auch für die Menschen, die über das Mittelmeer zu uns kommen“

Was ist das stärkste Argument für die umfassende Gültigkeit der Menschenrechte?

Die Tatsache, dass alle Menschen gleich sind und wir dies einsehen können, da wir über das erfreuliche Vermögen verfügen, die Perspektive anderer Menschen einzunehmen und sie zu verstehen. Die Grundlage der Menschenrechte ist die menschliche Fähigkeit, einzusehen, dass man ein Individuum unter anderen ist, die ebenfalls Ansprüche anmelden. Daraus leiten sich die Menschenrechte ab. Deshalb gibt es kein vernünftiges Argument gegen ihre umfassende Gültigkeit.

Ein Gegenargument lautet, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 sei in der speziellen Situation nach dem Zweiten Weltkrieg von den USA durchgesetzt worden und nehme deshalb eine einseitige Perspektive ein.

Das tut ihrem universellen Anspruch keinen Abbruch. Man soll nicht denken, die Mächtigen würden immer das Falsche unternehmen. Manchmal handeln sie auch richtig. Nur weil die USA etwas durchsetzen, ist es noch lange nicht falsch. Sie haben ja auch Jazz durchgesetzt.

Brauchen wir als Gesellschaft einen Begriff von Fortschritt, damit wir wissen, wohin es geht?

Fortschritt im Sinne der Gleichheit ist schon der Zweck an sich selbst. Man muss nicht alles begründen wollen, am wenigsten das, was schon universal gilt, sonst neigt man dazu, etwas Offensichtliches für bezweifelbar zu halten. Das ist ein Fehler, und das wusste übrigens schon Aristoteles, obwohl er einen schlechten Zahnarzt hatte.