: Aneinander vorbeigeredet
Bundestag Eine Weddinger Schulklasse besucht ein Mitglied des Bundestages. Der will mit den SchülerInnen sprechen – hat aber keine offenen Ohren
9 Uhr, ein warmer Sommermorgen im Regierungsviertel. Das Thermometer zeigt bereits25 Grad, Tendenz steigend. Die zehnte Klasse einer Oberschule aus dem Wedding versammelt sich für einen Besuch der Reichstagskuppel. Doch nicht nur das, sie sind auf Einladung eines Bundestagsabgeordneten hier, ein einstündiges Gespräch im Fraktionssaal der Partei inklusive. Der Grund? Der Politiker hatte in der taz eine Reportage über einen Workshop gelesen, an dem diese Klasse teilgenommen hatte, woraufhin er beschloss, die SchülerInnen einzuladen.
9.30 Uhr, langsam macht sich Ernüchterung breit. Von 25 angemeldeten SchülerInnen kommen ganze 6. Die restlichen 19 fehlen unentschuldigt. Wie kann das sein? Weil die Abschlussnoten schon feststehen vor den in der kommenden Woche beginnenden Sommerferien? Weil fast alle Jugendlichen wegen des Ramadans fasten und deshalb morgens länger schlafen? Jedenfalls haben scheinbar viele keine Motivation mehr, an Schulveranstaltungen teilzunehmen. Daran ändert wohl auch (oder soll man sagen: erst recht?) eine persönliche Einladung durch einen Abgeordneten nichts.
Bevor die Gruppe die Sicherheitskontrollen passieren kann, muss die Lehrerin der Polizei versichern, das eine von den Behörden gesuchte Schülerin aus dieser Klasse nicht Teil der Besuchsgruppe ist. Schulveranstaltungen schwänzen kann in manchen Fällen auch sein Gutes haben.
Oben auf der Kuppel scheint die Sonne erbarmungslos. Für alle Jugendlichen ist es das erste Mal, dass sie den Bundestag besuchen. Berliner Wahrzeichen werden gesucht und mit Hilfe von Selfie-Stäben für die Ewigkeit festgehalten. Eine Schülerin fragt, wo ihr Wedding liege. Die Gruppe sortiert kurz die Himmelsrichtungen. „Von hier oben sieht Berlin so schön aus mit all diesen Wahrzeichen. Dabei ist es dort, wo wir herkommen, echt hässlich.“
10.30 Uhr, das Treffen mit dem Abgeordneten steht an. Die Klasse hat Fragen vorbereitet. „Ich will wissen, wie er Politiker geworden ist und was er alles machen muss“, kündigt eine Schülerin an. Bei der Begrüßung auf der Fraktionsebene des Bundestages zeigt sich der Abgeordnete erstaunt. „Wo ist der Rest?“ Als keine Antwort kommt, versucht er die Situation zu retten: „Hauptsache, ihr seid da!“
Im Fraktionssaal setzt sich die Schülergruppe in die Reihen der Abgeordneten, der Politiker setzt sich alleine in die vorderste Reihe, wo sonst die Fraktionsvorsitzenden Platz nehmen. Die Hierarchie spiegelt sich auch in dem wieder, was eigentlich als „Gespräch“ vorgesehen war. Als die 6 SchülerInnen aufgefordert werden, ihre Fragen vorzutragen, traut sich anscheinend niemand. Ob das daran liegt, dass die meisten den langen Ausführungen nicht ganz folgen wollten? Später wird eine Schülerin sagen, dass „wir gar keine Zeit hatten, unsere Fragen in Ruhe zu stellen. Sonst hätten wir ihn ja unterbrechen müssen.“
Überhaupt, die Zeit. Der Abgeordnete muss nach 30 Minuten wieder los, obwohl das Gespräch auf eine Stunde angesetzt war. „Spontane Ansetzung“, erläutert seine Büroleiterin. Zum Schluss noch zwei Filmtipps für die Jugendlichen und schon ist der Politiker weg – die Jugendlichen können sich nicht persönlich verabschieden. Und die Fragen? „Die hätten sie halt sofort stellen müssen“, ist für die Büroleiterin klar.
Was bleibt also von diesem Vormittag, in dem sich zwei entgegensetzte Lebenswelten, die nur gute fünf Kilometer voneinander entfernt sind, begegnen sollten? Die kleine Delegation sitzt auf den Treppenstufen des Reichstagsgebäudes in der brütenden Hitze und debattiert. Die Kuppelbesichtigung war auf jeden Fall ein Erlebnis. Zum Schluss noch ein Gruppenfoto, dann trennen sich die Wege des Weddinger Grüppchens. Fünf Kilometer sind an diesem Vormittag eine ganz schöne Entfernung. Gil Shohat
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