Langsam ist das neue Schnell

ZEITENWENDE Das Solarflugzeug Solar Impulse überquert ohne Kraftstoff den Pazifik. Es steht für eine neue Ära der Bescheidenheit, wie die Concorde für Größenwahn stand

Solar Impulse beim Anflug auf Honolulu  Foto: Jean Revillard/global newsroom /ap

von Marco Morosini

ZÜRICH taz | Menschen, die Geschichte schreiben, denken sich zuweilen einen netten Spruch für den entscheidenden Moment aus. André Borschberg sagte am Freitag in Honolulu: „Ich hoffe, ich rieche nicht zu sehr.“

Verständlich, denn zuvor war der 62-jährige Pilot des Ultra­leichtflugzeuges „Solar Impulse 2” genau 4 Tage, 21 Stunden und 52 Minuten 7.200 Kilometer ununterbrochen von Japan nach Hawaii geflogen. Er ist der erste Mensch, der den Pazifik nur mit der Kraft von Solarzellen überfliegt. Sobald die Wetterbedingungen gut sind, geht es weiter Richtung USA. Dann hat das Flugzeug die kritischste Etappe seiner Weltumrundung hinter sich – mit der Geschwindigkeit eines VW-Busses, ohne Komfort.

Diese Beschreibung passt zum Wright Flyer, dem ersten motorisierten Flugzeug. 1903 eröffnete es eine Ära von ungeahnter planetarischer Massenmobilität und Umweltzerstörung. Auch Solar Impulse will für eine neue Ära stehen, eine Epoche der erneuerbaren Energien, der Leichtigkeit und der Bescheidenheit. Das Flugzeug steht für eine Abkehr vom Diktat des immer Schnelleren, Größeren, des ewigen Wachstums.

Das zeigt der Vergleich mit einer anderen technologischen Ikone des 20. Jahrhundert, deren Ende mit dem Beginn für Solar Impulse im Jahr 2003 zusammenfällt. Damals flog die Concorde zum letzten Mal, jene grandios gescheiterte Unternehmung des ersten und einzigen Überschallflugzeugs im Passagierverkehr.

Die Concorde war eine Apotheose von Überheblichkeit und Verschwendung. Höhere Leistung und Beschleunigung gingen einher mit noch größerem Lärm und Luftverschmutzung, das Kennzeichen des 20. Jahrhunderts. Die Concorde wog 184 Tonnen, trug bis zu 100 Passagiere mit sich, donnerte mit 2.200 Kilometern in der Stunde in dreieinhalb Stunden von London nach New York und verbrauchte dabei 25.600 Liter Kraftstoff in der Stunde.

Solar Impulse wiegt 2,3 Tonnen, obwohl es mit 72 Metern die Spannweite eines Jumbo-Jets hat. Der Flieger tingelte mit 61,2 Kilometern in der Stunde in Richtung Hawaii und verbraucht dabei: nichts. 17.000 Solarzellen laden am Tag die Akkus auf, die vier Elektromotoren antreiben. Eine leise summende Technolibelle.

Politisch und technologisch war die Concorde ein Schwergewicht. Als gemeinsames Unternehmen der französischen und britischen Regierungen war sie Prestigeobjekt eines paneuropäischen Stolzes. „Ankommen, bevor man abgeflogen ist!“, sagte die Werbung. 400 Überschallflugzeuge würden im Jahr 2000 den Himmel durchkreuzen, hieß es in den 70er Jahren. Eine einzige Übertreibung: Die Concorde war doppelt so schnell, der Kraftstoffverbrauch war dreimal, die Passagierkosten bis zehnmal höher als bei herkömmlichen Flugzeugen.

Wegen ihres Startlärms und des Ultraschallknalls war sie vielerorts verboten. Zudem wurden ihr die Ölkrisen der 70er zum Verhängnis. Fast alle Fluggesellschaften stornierten ihre Bestellungen. British Airways und Air France trugen allein die Kosten von gerade einem Dutzend Flugzeuge.

Spieltheoretisch wurde der „Concorde-Trugschluss“ zum Synonym für eine Pattsituation, in der die fälligen Ausstiegskosten die bereits getätigten Investitionen übersteigen. „Too big to fail“, ante litteram. Auch wenn die beiden Regierungen die Tickets stark subventionierten, deckten deren Einnahmen die Betriebskosten nicht.

Das Solarflugzeug mag man dagegen als extravagantes Spielzeug betrachten: Niemand erwartet, dass mit Photovoltaik in den Flügeln Passagierflugzeuge betrieben werden können. „Solar Impulse soll demonstrieren, dass wir mit grüner Technik unglaubliche Dinge tun können“, sagt Bertrand Piccard, neben Borschberg Initiator des Projekts. Es ist im Prinzip ein Kommunikations-, nicht ein Luftfahrtprojekt. Piccard will Lösungen zeigen, begeistern, statt Klimaangst zu verbreiten.

Spieltheoretisch ist der „Concorde-Trugschluss“ Synonym für eine Pattsituation

Moderne Solartechnik ist reif für die ambitioniertesten Herausforderungen. Das 21. Jahrhundert kann und muss das Jahrhundert der erneuerbaren Energien werden. Eine epochale und zugleich pragmatische Wende, die Konflikte um Land, Ressourcen und Rohstoffe befrieden kann, und vielleicht der einzige Ausweg aus der Klimakrise.

Solar Impulse mag ein experimenteller Prototyp sein. Aber er steht für technologische Führung im Bereich erneuerbare Energien – ein etablierter, schnell wachsender Markt. Die Kosten für erneuerbare Energien sinken ständig, die für atomare und die meisten fossilen Energien steigen. Noch vor wenigen Jahren hielten viele es für unmöglich, was Europa nun anstrebt: eine Stromerzeugung auf Basis erneuerbarer Energien, später eine vollständige Umstellung von Wirtschaft und Gesellschaft.

Es ist kein Zufall, dass die Gründer von Solar Impulse Schweizer sind, so wie die Technologie. Seit Anfang des Jahrhunderts verpflichtet sich die Schweiz auf allen Ebenen, Forschung, Regierung, Parlament, Kantone und Städte, auf die von der ETH Zürich entwickelten Vision einer „2.000-Watt-Gesellschaft“: Bis in die zweite Hälfte des Jahrhunderts soll der Pro-Kopf-Energieverbrauch um zwei Drittel sinken und vor allem durch erneuerbare Energien gedeckt werden.

Piccard will in dem Jahr, in dem die Vereinten Nationen einen neuen Klimaschutzvertrag beschließen wollen, Druck machen. Er sammelt über seine Webseite futureisclean.org Unterschriften „für eine saubere Zukunft“, sagt er. Die Unterschriften sind kein Protest, sie sollen Regierungen unterstützen. André Borschberg sagte kurz nach Abflug über den Pazifik in einem Telefoninterview einen Satz, der so symbolisch für die neue Ära steht wie sein Flugzeug: „Es ist faszinierend, quasi für immer fliegen zu können.“

Marco Morosini, 62, forscht an der ETH Zürich zu Energiebescheidenheit und schreibt Drehbücher und Theaterstücke