Berühmt ohne Verleih: Jede Minute ein Lebensjahr

Mit dem Essayfilm „Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe“ kommt Philipp Hartmann nach einer70-Kino-Tour wieder in Hamburg an.

Schwingen wie eine Uhr: Philipp Hartmanns „Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe“. Foto: Promo

HAMBURG taz | Normalerweise wird über einen Film berichtet, wenn er in die Kinos kommt - nicht, wenn er kurz davor ist, endgültig von den Leinwänden zu verschwinden. Bei „Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe“ von Philipp Hartmann ist nicht nur dies anders: Einen regulären Filmstart hat er nie gehabt, weil kein Verleiher sich traute, diesen Essayfilm, der seinen Zuschauern einiges an Neugierde und Konzentration abverlangt, in die Kinos zu bringen.

Stattdessen tingelte der Filmemacher zwischen Oktober 2014 und Februar 2015 bundesweit durch 70 Städte, zeigte seinen Film und unterhielt sich danach mit dem Publikum.

Eine Zeitlang war er an fast jedem Tag in einer anderen Stadt, präsentierte „Die Zeit …“ meist in kleinen Programm- und Kommunalkinos, aber auch in Filmclubs, bei Schulvorstellungen und ein paar Mal sogar in örtlichen Multiplexkinos. Fahrt und Unterkunft zahlten die Kinobetreiber, die Kasse wurde geteilt - es kamen „zwischen zwei und 150 Zuschauer“, sagt Hartmann.

Schaut man nur auf die Zahlen, ist dies also keine sensationelle Erfolgsgeschichte, aber sie war zumindest auch kein Zuschussgeschäft - und Hartmann sagt, er habe es sich „gegönnt“, mehr „an der Qualität als der Quantität“ des Projekts interessiert zu sein.

Diese Qualität bestand darin, über einen langen Zeitraum unmittelbar erleben zu können, wie sein Film in vielen unterschiedlichen Räumen und Kontexten wirkt. Dabei lernte er die heutige deutsche Kinolandschaft so gut kennen wie nur wenige andere Filmemacher, und weil er bei seiner Reise immer eine Kamera dabei hatte, wird er darüber seinen nächsten Film machen.

Erfolg nur international

Die Aufführungs-Karriere von „Die Zeit …“ begann schon merkwürdig: Hartmann hatte den Film punktgenau für die Einreichung beim Forum der Berlinale 2013 fertiggestellt, aber er bekam eine Ablehnung. Eingeladen wurde er stattdessen auf das in der Branche renommierte, öffentlich aber kaum bekannte „Ficunam“-Festival in Mexico City, wo er dann Weltpremiere feierte.

Die deutsche Erstaufführung geschah im Rahmen der Hamburger Dokumentarfilmwoche, danach wurde der Film aber auch von den Festivals ignoriert und lief einzig noch auf einem kleinen Filmfest am Starnberger See. International war er erfolgreicher: Hartmann zeigte den Film in Buenos Aires, Kopenhagen, Lissabon und Wien, sogar im New Yorker Lincoln Center lief er in einer Filmreihe.

Nach einem Festivaljahr, in dem sich Ernüchterung und Überraschung die Waage hielten, versuchte Hartmann dann einen Verleiher zu finden - und scheiterte. Tatsächlich ist das finanzielle Potenzial eines Essayfilms eher gering, woran auch das Prädikat „besonders wertvoll“ kaum etwas ändert. Da auch keine Fernsehanstalt Interesse zeigte, wäre der Film unter normalen Umständen kaum noch öffentlich gezeigt worden.

Doch Hartmann wollte nicht nur die Fachbesucher von Festivals, sondern auch „das echte Publikum“ erreichen. Dafür telefonierte er vier Monate lang mit vielen Kinobetreibern und war erstaunt darüber, dass die meisten durchaus Interesse hatten, seinen Film und ihn selbst für eine Vorstellung zu buchen. So kam es zu der Tour durch 70 Kinos, die in seiner Geburtsstadt Karlsruhe begann und am Dienstag in Hamburg endet.

Motiv Lebenskrise

Dass Hartmann so viel Zeit in seinen Film investiert, ist auch deshalb bemerkenswert, weil er selbst an „Chronophobie“ leidet: der Angst davor, dass die Zeit zu schnell vergeht. Diese Furcht hat ihn überhaupt dazu getrieben, den Film zu machen, der auf vielen verschiedenen Ebenen vom Vergehen der Zeit handelt: vom Älterwerden, vom Erinnern, vom Vergessen, vom Tod. Dabei versucht Hartmann zugleich spielerisch und mit manchmal mathematischer Präzision eine Entsprechung von Form und Inhalt zu finden.

So behauptet er, mit 38 in eine Sinnkrise gerutscht zu sein, von der sein Film ihn heilen sollte. Und weil, statistisch gesehen, ein deutscher Mann 76 Jahre alt wird, ist Hartmanns Film ist nun genau 76 Minuten und 30 Sekunden lang - eine Filmminute symbolisiert ein Lebensjahr.

Diese Mischung aus Sachlichkeit und Subjektivem durchzieht den Film: Es gibt darin fast lehrfilmartige Sequenzen über die Schaltsekunden bei der Atomuhr in Braunschweig oder eine Sanduhrmacherin in Buenos Aires. Im Off liest der Nachrichtensprecher Jo Brauner Formulierungen aus Gesetzestexten über die Rechte und Pflichten von Heranwachsenden oder historische Nachrichten von Anarchisten, die Kirchturmuhren beschießen.

Aber „Die Zeit …“ erzählt auch autobiografisch, Hartmann hat private Super-8-Aufnahmen hineinmontiert, lässt seine Mutter Tagebuch vorlesen, sich von seiner Großmutter einen Moment des Glücks schildern und spielt mit seiner dreijährigen Nichte.

Zum Teil ist dies auch ein Reisefilm mit Aufnahmen von einer Salzwüste in Bolivien oder einem Eisenbahnfriedhof in den Anden. Für eine Handvoll inszenierter Miniaturen überlässt er dem Bremer Filmemacher Jan Eichberg die Regie. Und bastelt sich sogar eine Zeitmaschine, die mit einem „Puff!“ (und Stopptrick) verschwindet.

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