: Die unüberschaubare Schule
In ihrem Pisa-Bundesländerbericht richten die Max-Planck-Forscher ihren Blick auf das zergliederte Schulsystem: Es erzeugt selektionsbedingte Lernmilieus - die für die Leistungsstreuung und die soziale Spaltung der Schülerschaft verantwortlich sind
von JÜRGEN BAUMERT
Steigende Nachfrage nach qualifizierter Bildung ist in allen Bundesländern ein kennzeichnendes Merkmal der vergangenen Jahrzehnte. Gemessen am akademischen Entwicklungsstand anderer Industrienationen, ist aber nicht davon auszugehen, dass der Prozess der Bildungsexpansion in Deutschland bereits abgeschlossen ist. Die Bundesländer haben in verschiedener Weise reagiert - vor allem bei der Ausprägung von Schulformen. Das Spektrum der Schulstruktur reicht inzwischen von der Zwei- bis zur Fünfgliedrigkeit.
Die traditionelle Dreigliedrigkeit (Hauptschule, Realschule, Gymnasium) findet sich nur noch in wenigen Bundesländern. Daneben gibt es Länder, die neben dem Gymnasium lediglich eine Schule mit mehreren Bildungsgängen kennen (Zweigliedrigkeit), aber auch solche, die Hauptschule, Realschule, Gymnasium und Integrierte Gesamtschulen (Viergliedrigkeit) und in einigen Fällen zusätzlich noch Schulen mit mehreren Bildungsgängen (Fünfgliedrigkeit) nebeneinander führen.
Ähnlich uneinheitlich ist das Bild, wenn man die relative Verteilung der Schulabschlüsse in den Ländern betrachtet. Die allgemeine Hochschulreife (ohne Fachhochschulreife) erreichen zwischen 20 und 31 Prozent der SchülerInnen, einen mittleren Abschluss zwischen 39 und 60 Prozent und einen Hauptschulabschluss zwischen 16 und 44 Prozent der SchülerInnen des jeweiligen Altersjahrgangs.
Die strukturellen Entwicklungen wirken sich aus - auf die soziale Segregation, die Bildungsgerechtigkeit und die Sicherung von Lernstandards.
In allen Ländern entfällt ein erheblicher Anteil der Unterschiede in den Fachleistungen wie in der sozialen Zusammensetzung der Schülerschaft auf die Existenz unterschiedlicher Schulformen. Leistungsunterschiede zwischen SchülerInnen und ihre soziale Segregation hängen dabei zusammen. Innerhalb der Schulformen bilden sich je eigene "Lernumwelten", die gravierend voneinander abweichen. Die Folgen sind einschneidend - es gibt eine unterschiedlich hohe Schulzufriedenheit und unterschiedliche Leistungsniveaus. Die Lernumwelten hängen mit unterschiedlicher Ausprägungen soziodemografischer Merkmale wie dem Status und dem Bildungsniveau der Eltern, dem Anteil von Familien mit Migrationshintergrund oder der Verkehrssprache in den Familien zusammen. Im Zusammenspiel von regional unterschiedlicher Bildungsbeteiligung, schulstrukturellem Angebot und lokalem Einzugsgebiet entwickeln sich so selektionsbedingte Schulmilieus.
Die Leistungsschere geht in der Sekundarstufe auf
Diese institutionellen Differenzierungsprozesse tragen in allen Ländern dazu bei, dass sich die Leistungsschere in der Sekundarstufe öffnet. Das heißt: Die im internationalen Pisa-Vergleich nachgewiesene, ungewöhnlich große Leistungsstreuung unter Schülern in Deutschland wird zu einem nicht unerheblichen Teil in der Sekundarstufe I institutionell erzeugt - nach der Auslese der Schüler am Ende der vierten Klasse in unterschiedliche Schulformen.
In allen Ländern zeigt sich eine erhebliche Überlappung in den Leistungen von SchülerInnen unterschiedlicher Schulformen. Ein nicht geringer Teil der SchülerInnen könnte ihrem Leistungsniveau nach in einen höheren Bildungsgang wechseln. Der Anteil potenzieller Bildungsgangwechsler ist in den Ländern am größten, die am eindeutigsten an der traditionellen Dreigliedrigkeit des Schulwesens festhalten. Interessant ist dabei aber auch eine andere Beobachtung: Da, wo die Leistungen am stärksten überlappen, erhöht sich das durchschnittliche Leistungsniveau der SchülerInnen und vermindert sich der Anteil potenzieller Risikoschüler. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass dort die Leistungsentwicklung in den Schulformen weniger stark auseinander strebt.
Die Sicherung des Leistungsniveaus geht also mit Problemen der Verteilungsgerechtigkeit einher. Zugespitzt ließe sich sagen: Die leistungsorientierte Homogenisierung von Schulen hat umso bessere Fördereffekte, je weniger sie gelingt.
Es gibt erhebliche Leistungsunterschiede zwischen Schulen derselben Schulform. Diese Unterschiede sind sowohl Ergebnis einer unterschiedlich gehandhabten Schülerauslese im Zusammenhang mit dem jeweiligen Schulumfeld als auch Resultat unterschiedlich erfolgreicher pädagogischer Arbeit der jeweiligen Einzelschule.
Die Leistungsunterschiede zwischen den Ländern lassen sich nicht aus unterschiedlichen Mustern der Bildungsbeteiligung erklären. Wachsende Bildungsbeteiligung sichert nicht automatisch ein insgesamt höheres Leistungsniveau. Sie führt aber auch nicht zwangsläufig zu sinkenden Leistungen in Bildungsgängen, die zu herausgehobenen Bildungsabschlüssen führen. Lesekompetenz und mathematische Kompetenz der Schülerschaft der 9. Jahrgangsstufe insgesamt variieren weitgehend unabhängig davon, welcher Anteil davon das Gymnasium besucht.
Ein statistischer Zusammenhang zeigt sich zwischen den länderspezifischen Expansionsraten des Gymnasiums und dem jeweiligen durchschnittlichen gymnasialen Leistungsniveau. Dieser Befund hat seine wesentliche Ursache in der unzureichenden Sicherung des Einhaltens von Standards im unteren Leistungssegment. Dies ist übrigens nicht auf die Öffnung der Gymnasien zurückzuführen. Die Ursachen liegen vielmehr an Mängeln bei der Förderung der Schüler und dem professionellen Umgang mit Leistungsheterogenität in der Klasse.
Die aus der Befragung der SchülerInnen gewonnenen Erkenntnisse deuten auf eine hohe Uniformität der Unterrichtsstile in Deutschland hin. Die SchülerInnen empfinden den Leistungsdruck durchwegs als relativ stark, die Unterstützung durch Lehrkräfte als relativ schwach.
Die Studie analysiert auch den Zusammenhang zwischen den im letzten Halbjahr vor der Pisa-Untersuchung erreichten Schulnoten und den in den Leistungstests gezeigten Ergebnissen. Dabei bestätigt sich der Befund, dass sich die Schulen in der Notenvergabe eher an dem spezifischen Leistungsniveau der einzelnen Schule bzw. Lerngruppe und nicht an schulübergreifenden Kriterien orientiert. Das bedeutet: Für gleiche Leistungen werden in unterschiedlichen Schulen unterschiedliche Noten vergeben. Eine Rolle spielt hierbei auch die Einbettung der Bildungsgänge in unterschiedliche schulstrukturelle Kontexte. Dieser in allen Ländern festzustellende Effekt wird in seinen Auswirkungen durch die Leistungsunterschiede zwischen den Ländern erheblich verstärkt.
Diese Einzelbefunde bestätigen die Dringlichkeit einer wirksamen Standardsicherung. In einem Schulsystem, das mit den vergebenen Abschlüssen Berechtigungen verbindet, müssen Transparenz und Vergleichbarkeit der vergebenen Bewertungen gesichert sein.
Die Welt ist durch zunehmende Qualifikationsbedürfnisse geprägt, die wachsendem Wissen und globalisierter Kommunikation entspringen. Das macht eine Modernisierung des Bildungswesens nötig - die aber mit Verteilungsgerechtigkeit und Standardsicherung in einem Spannungsverhältnis steht. Die mit Pisa E vorgelegten Analysen zeigen indes, dass die Bildungsexpansion in Deutschland werder abgeschlossen noch bewältigt ist. Die Länder haben, auch wegen unterschiedlicher Besiedelungsdichte, Urbanisierungsgrad und ökonomischer Leistungsfähigkeit, sehr unterschiedliche Entscheidungen getroffen. Das bezieht sich auf die Schulstrukturen und die damit verbundenen Konsequenzen für die Bildungswege junger Menschen. In ihren Auswirkungen hat diese Differenzierung eine nur noch schwer zu überschauende Vielfalt von Situationen geschaffen. Damit stellt sich erneut die Frage: Wie kann Leistungsfähigkeit, Transparenz und Vergleichbarkeit von Schulsystemen in den Ländern gesichert werden?
Denkbare politische Optionen für die Schule
Es spricht vieles dafür, institutionelle Differenzierungen der deutschen Schule eher zurückzunehmen und sie nicht weiter voranzutreiben. Dies ist bedeutsam, um für Kinder und Jugendliche bessere Förderbedingungen schaffen zu können und die soziale Segregation zu verringern. Es erscheint aber schwer vorstellbar, diese Probleme zu lösen, indem die Länder über ihre Grenzen hinweg ihre Schulstrukturen annähern. Die Entscheidung hierüber können die einzelnen Länder politisch nur selbst treffen. Von zentraler Bedeutung ist daher das inhaltliche Bemühen um Standardsicherung. Dies gilt besonders für die klare Bestimmung von Anforderungsniveaus (Mindeststandards) vornehmlich für die basalen Sprach- und Selbstregulationskompetenzen - insbesondere Deutsch, Fremdsprache, Mathematisierungskompetenz. Sie sind die Voraussetzung erfolgreichen Lernens in allen Fächern. Zugleich sind geeignete Verfahren zu entwickeln, um die Standards regelmäßig überprüfen zu können.
Die Vergleichbarkeit des Niveaus von Bildungsabschlüssen ist unabhängig von ihrem jeweiligen institutionellen Kontext zu sichern. Die Lösung dieses Problems ist nicht in einer Verschärfung der Bewertungspraxis bei im Übrigen unveränderten Rahmenbedingungen zu suchen. Der richtige Weg wäre es, das Leistungsniveau der einzelnen Schule als solcher anzuheben. Dazu bedarf es auch geeigneter personeller Unterstützung der Lehrer etwa durch Sozialpädagogen, Schulpsychologen und Assistenzlehrer. Das könnte die Schulen im professionellen Umgang mit einer sozial und leistungsmäßig heterogenen Schülerschaft qualifizieren.
Der Blick ist nach Pisa insbesondere auf schwache Schulen zu richten. Dies können Schulen sein, die in einem besonders schwierigen Umfeld arbeiten. Oder solche, die schlechtere Ergebnisse erreichen, als nach den Bedingungen ihres Umfelds zu erwarten wäre.
Das ist das Resumee der beiden bisherigen Pisa-Bundesländervergleiche, das die Arbeitsgruppe des Max-Planck-Institutes für Bildungsforschung unter Federführung Jürgen Baumerts verfasst hat. Die taz dokumentiert den gekürzten und redaktionell bearbeiteten Text.
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