: Nach der Devise: Tot oder lebendig
Die Art, wie der Showdown im mecklenburgischen Bad Kleinen ablief, ist typisch für die unerbittliche Konfrontation zwischen Staat und RAF. VON MICHAEL SONTHEIMER
High noon auf dem Bahnhof Bad Kleinen. Doch was den rund 4.000 Einwohnerinnen und Einwohnern des kleinen Ortes im Landkreis Wismar in Mecklenburg-Vorpommern am Sonntag nachmittag auf den ersten Blick wie der klassische Showdown eines Western erschien, war bitterer Ernst. Auf dem Bahnsteig zwischen den Gleisen 3 und 4 lagen eine blutverschmierte Lederjacke, eine Pistole und einzelne Patronenhülsen. Auf den Schwellen von Gleis 3 lag tödlich getroffen ein Mann, auf der Treppe zum Tunnel ein weiterer. Selbst die Lokomotive des Zuges, der um 15.16 nach Lübeck abfahren sollte, hatte mehrere Einschußlöcher.
Bei der vorangegangenen Schießerei waren das mutmaßliche Mitglied der Rote Armee Faktion Wolfgang Grams und ein Beamter der Anti-Terrorgruppe GSG-9 tödlich verwundet worden. Beamte eines Zielfahndungskommandos nahmen außerdem die seit über fünf Jahren mit einem internationalen Haftbefehl gesuchte Birgit Elisabeth Hogefeld fest, die wie Grams nach Auffassung der Bundesanwaltschaft zur sogenannten "Kommandoebene" der RAF zu zählen sei.
Nach den Darstellungen des Generalbundesanwalts und von Augenzeugen hatten Grams und Hogefeld in der Bahnhofsgastätte "Werneck" gegessen, bevor sie diese gegen 15 Uhr verließen. Offenbar observierte eine junge Beamtin in Zivil die beiden bereits in der Kneipe und informierte dann das draußen in Stellung gegangene Mobile Einsatzkommando über Funk von dem Aufbruch der beiden. Grams und Hogefeld durchquerten eine Unterführung, dann kam es zur Schießerei. Dabei habe, so die Bundesanwaltschaft, Birgit Hogefeld den Schußwechsel eröffnet. Grams erlitt einen Kopfschuß und starb gegen 18 Uhr in der Universitätsklinik Lübeck. Ein GSG-9-Beamter des Bundesgrenzschutzes wurde ebenfalls tödlich getroffen. Ein weiterer Polizist und eine unbeteiligte Bahnbeamtin erlitten leichtere Schußverletzungen.
Gegen die 36 Jahre alte Birgit Hogefeld, die früher als Mitglied der "Roten Hilfe Wiesbaden" die Hungerstreik-Aktion inhaftierter RAFler unterstützt hatte, lag ein Haftbefehl des Bundesgerichtshofes wegen Verdachts des gemeinschaftlich versuchten Mordes an dem damaligen Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Hans Tietmeyer, am 20. September 1988 in Bonn-Bad Godesberg vor. Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams, die, bevor sie 1984 untergetaucht waren, einige Zeit in Wiesbaden zusammengewohnt hatten, wurden zudem wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gesucht.
Die von der Bundesanwaltschaft mit Erleichterung aufgenommene Botschaft des tragischen Schußwechsels heißt: Die RAF existiert wirklich noch. Der in den siebziger Jahren aufgebaute Fahndungsapparat - allein im Bundeskriminalamt in Wiesbaden sind über 300 Beamte ausschließlich mit der Fahndung nach der RAF beschäftigt - konnte nicht die geringsten Erfolge vorweisen. Die Bundesanwaltschaft suchte erfolglos beispielsweise nach dem mysteriösen Ehepaar Meyer. In den letzten Jahren hatte sich die RAF immer mehr in ein Phantom verwandelt. Zuletzt spekulierten sogar Journalisten in dem Buch "Das RAF- Phantom" ebenso detailliert wie unglaubwürdig, ob nicht schon lange ganz andere Kräfte sich den zugkräftigen Firmennahmen der Stadtguerilla angeeignet hätten.
Die Art und Weise, wie die Aktion in Bad Kleinen ablief, ist hingegen typisch für die unerbittliche Konfrontation zwischen Staat und RAF. Schon lange geht die Polizei bei der Fahndung nach mutmaßlichen Terroristen nach der Devise: "Tot oder lebendig" vor. Auf der anderen Seite galt es auch bei der RAF als stillos, sich einfach widerstandslos festnehmen zu lassen. So erklärt es sich, daß, seit Petra Schelm am 15. Juli 1971 im Rahmen einer Großfahndung in Hamburg von der Polizei erschossen wurde, Wolfgang Grams das siebte Mitglied der RAF ist, das bei dem Versuch der Verhaftung getötet wurde. Mitglieder der RAF erschossen ihrerseits in den nunmehr 23 Jahren ihres selbsterklärten Bürgerkrieges bei dem Versuch, sich einer Festnahme zu entziehen, 13 Polizisten.
Noch vollkommen unklar ist bislang, wie die notorisch erfolglosen Fahnder auf die Spur von Grams und Hogefeld kamen. Die Bild-Zeitung berichtete in ihrer gestrigen Ausgabe, daß die beiden ebenso wie zahlreiche andere RAF-Mitglieder vor der Wende unter falscher Identität in der DDR Unterschlupf gefunden hätten und jetzt mit Hilfe von Unterlagen der Stasi aufgespürt worden seien. Diese Behauptung wurde gestern von den Ermittlungsbehörden nicht bestätigt. Trifft sie dennoch zu, stellen sich zwei Fragen. Wenn die beiden tatsächlich mit einer neuen Identität in der DDR abgetaucht wären, warum haben sie sich dann nicht wie die anderen in der DDR untergekommenen RAF-Aussteiger widerstandslos verhaften lassen? Warum waren sie weiterhin bewaffnet?
Wären sie von der DDR aufgenommen worden, aber von dort aus weiterhin in den 80er Jahren aktiv gewesen, würde dies den bisher vermuteten Charakter der RAF-Stasi-Connection in neuem, dramatischerem Licht erscheinen lassen. Dann wäre der Beweis erbracht, daß die DDR-Führung und die Staatssicherheit tatsächlich den bewaffneten Kampf gegen den Klassenfeind aktiv unterstützt hätten. Dies wäre die Bestätigung dafür, daß die beiden prominentesten Feinde der alten Bundesrepublik eine monströse Verschwörung betrieben hätten. RAF und Stasi wären endgültig zu einem Superfeindbild mystifiziert. Michael Sontheimer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!