: Der Lärm war unerträglich
Deutscher Herbst, bleierne Zeiten? Blödsinn. Die sich selbst lockernde Bundesrepublik wollte nur Ruhe vor diesen Kriminellen.
Eine Chronik der späten Sechziger- bis frühen Achtzigerjahre mit den nötigsten Fakten zum links inspirierten Terrorismus der RAF und anderer liest sich für alle, die daran beteiligt waren, vorsichtig gesagt, wie: Hey, da warn wir aber wichtig, alles über uns! Was wiederum den Narzissmus, die Selbstbezüglichkeit des Alles-soll-anders-werden-egal-wie-Konzepte setzenden Milieus anheizt. Und dies dürfen sie alle ja auch noch so empfinden: Gemessen an den Aufmerksamkeiten, die der RAF zuteil wurden durch Medien, durch die Sicherheitsapparate, in akademischen Zirkeln wie bildungsbürgerlichen Stuben, ist eine solche Datensammelei gewiss berechtigt.
Und trotzdem ist das meiste nur Blödsinn. Die Siebzigerjahre, um die es ja hauptsächlich geht, waren jedenfalls weder bleiern noch überwiegend herbstlich gestimmt. Im Gegenteil. Aus der Perspektive jener Menschen, die seitens der Linksradikalen als Arbeiterklasse verortet wurden, war alles ganz und gar anders. Es war eine Dekade, die spürbar aufgewühlt war durch die Klimaveränderungen gesellschaftlicher Art. Nichts blieb so, wie es in den steifen Fuffzigern noch war - und doch wurde auch schon in den jungen Jahren der Republik alles angelegt, was später zur Reife kommen sollte. In den Siebzigern aber, an deren Beginn Willy Brandt Kanzler war und an deren Ende Helmut Schmidt, wuchs sich der Ehrgeiz der Aufbaugeneration der Nachkriegszeit zu ersten Anzeichen von Zufriedenheit aus. Die Union, ihre lähmende Politik und ihr starres Verständnis von Christentum, hatten ausgedient - sie litt besonders unter den gesellschaftlichen Veränderungen, die sie so stetig wie wütend bekämpfte.
Konsum & Kasse
In den Siebzigern - erinnert jemand noch die Streiks der Jahre 1973 und 1974, an deren Enden teilweise gewaltige Gehaltssprünge erstritten waren? - war man aus dem Gröbsten raus, auch materiell. Fernsehgeräte, Urlaubsreisen, Möbel ausgesuchter Art (nicht vererbte), Automobil oder das Telefon: Man konnte es sich erlauben. Der Komfort der bürgerlichen Klasse war erschwinglich, jedenfalls nicht unmöglich zu haben.
Eine Zeit, in der die Bundesrepublik bis in den letzten Weiler zum Experimentallabor neuer Lebensstile wurde. Man diskutierte über Geschlechterverhältnisse, Mütter und Väter verabschiedeten sich - hin und wieder überfordert - von den drakonischen Erziehungsstilen, die an ihnen noch brutal exekutiert wurden. In jenen Jahren war es, da aus den Wohnsiedlungen diese absolut friedhofsanmutende Sitte verschwand, dass zwischen 13 und 15 Uhr alles Leben zu erliegen habe; Kinder ignorierten, von den Eltern schweigend gebilligt, Ermahnungen. "Betreten des Rasens verboten". Nur noch in einsehbaren Ausnahmen mied man das frische Grün: Kinder überhaupt kamen in den Genuss aller Lockerungen.
Die RAF sprach davon, alle Herrschaft bekämpfen zu wollen. In den Städten, Dörfern und Straßen ging es eben darum, mit der Herrschaft der steifen Republik aufzuräumen und die Reste der wilhelminischen Zeremonie wie der nazistischen wie christlichen Angstmacherei wenigstens in den Blick zu nehmen - und sie zu entsorgen. Unabhängig von irgendeiner Initiative aus den linksradikalen Kreisen wurde nichts heißer, zäher und hartnäckiger disputiert wie das Sexuelle. Frauen machten erste Landgewinne, sich dem Manne nicht mehr untertan zeigen zu müssen; die Ehe büßte als zwingendes Lebensmodell ein. Überhaupt: Das Scheidungsrecht wurde sozialliberal und gegen den Widerstand der Union fundamental verändert - nicht mehr das Schuld-, sondern das Zerrüttungsprinzip war die Elle aller Trennungsverfahren.
Die RAF hingegen? Hatte eben dieser Gesellschaft in stillem Aufruhr nichts mitzuteilen, was auch nur die flüchtige Erwägung wert gewesen wäre. Aber war da nicht was von wegen Antiimperialismus, Globalisierung von links quasi? Alles nur Ausrederei, kein echtes Engagement, um diese Welt besser zu machen. Und ist nicht zu bedenken, dass die RAF sich um Antinazistisches kümmerte? Quatsch. Alles, bloß darum nicht. War Schleyer nicht ein brauner Bonze dereinst gewesen? Und gab es nicht Kiesinger und Filbinger und andere, die für eine Bundesrepublik standen, die noch eingebräunt war? Eben: nur eingebräunt - an den Rudern saßen längst Demokraten, Politiker jedenfalls, die in jeder Hinsicht sich in Wahlen zu rechtfertigen hatten.
Das waren auch die Siebziger: Mehr Demokratie wagen, ernst genommen. Das war die Zeit, als die Generation der Kriegskinder längst erwachsen war. Kriegskinder, das sind jene, die zwischen 1933 und 1945 geboren wurden - für jede nazistische Sauerei viel zu jung, auch keine Flakhelfer, doch zu alt, um die Kriegsverwüstungen in Deutschland nicht realisiert zu haben. Kinder, die in Trümmern ihre Eltern und Geschwister nicht wiederfanden. Die nach dem Krieg irgendwo unterkamen und nicht über ihre Traumata sprechen durften. "Stell dich nicht so an!" - die Mahnung der Alten an die Jungen, Erlittenes für sich zu behalten, als sei es nichts gewesen.
Vor drei Jahren fand in Frankfurt am Main ein Kriegskinderkongress statt - und zweitausend Menschen wollten dabei sein. Was sie berichteten, verdiente Beachtung, aber für die Siebzigerjahre gab eine Frau, in jenen Jahren Anfang dreißig, erregt zu Protokoll: "Wir mussten doch den Aufbau schaffen, wir wollten so leben, dass jede Kriegsspur nicht mehr zu riechen ist. Und ich wollte mit all diesen Terroristen nichts zu tun haben. Sie waren mir eigentlich egal. Aber dieser Lärm, dieses Geschrei, dieses Leiden - meine Ohren konnten das nicht aushalten."
Aus dem Gröbsten
Sie fuhr fort: "Mein Gefühl war, sie wollten alles zerstören, was wir uns gerade wieder in Ruhe aufgebaut haben." Vielleicht ist noch wichtig zu sagen, dass diese Frau, eine Gewerkschaftsfrau auf ihre älteren Tage, für viele andere sprach und sich wie diese über die innere Entspannung der Bundesrepublik aufrichtig freute.
Es gehörte zum guten linken Ton, die erfahrbare Verbesserung aller Lebensverhältnisse als unpolitisch, jedenfalls moralisch irrelevant abzutun. Konsumgesellschaft! Aus dem RAF-Milieu hörte man ohnehin öfter, die Arbeiterklasse, die Bevölkerung der Industrieländer sei korrupt, käuflich. Muss man noch sagen, dass lächerlich ist, den Ehrgeiz, ein besseres Leben zu wollen, für einen Akt der Selbstbestechlichkeit zu nehmen?
Mehr Beispiele für den Verrat der Arbeiterklasse? Die Schulverhältnisse wurden viel besser, bereits Anfang der Sechziger sorgten liberale wie sozialdemokratische Politiker für eine Bildungsoffensive. Mehr Kinder von Proleten konnten Abitur machen, sogar studieren. Eine akademische Qualifikation war nicht mehr allein das Privileg der bildungsbürgerlichen, der Boheme zugeneigten Schichten.
Anders gesagt: Jene, die den Bildungs- und Distinktionsreichtum, deren sich all die Ensslins, Baaders, Meinhofs und Klars mächtig wussten, mit finanzierten, die MalocherInnen, hatten sehr wohl etwas zu verlieren: Die Ketten, die sie der RAF zufolge zu sprengen hatten, lockerten sie gern von selbst, wenngleich, und auf diesen Unterschied kommt es an, ohne selbstzerstörische Neigungen im politischen Sinne. Sie wollten bewahrt wissen, was sie mit wiederaufgebaut hatten. Wer ermessen möchte, wie sehr die Bundesrepublik eine weltläufige, eine nichtnationalsozialistische sein wollte, soll sich Bilder von den Olympischen Spielen 1972 in München angucken. Die Luftigkeit, mit der diese inszeniert wurden, fand ihr Ende im Terror der palästinensischen Attentäter und deren Helfer in Deutschland. Dass unsere linksradikale Szene obendrein den Mördern der israelischen SportlerInnen applaudierte, weckte Entsetzen, mindestens Aversion gegen diese.
Der Beifall nach den Selbstmorden von Stammheim war taktlos, nicht allein die Bild-Zeitung artikulierte ihn, man hörte ihn unter anderem auch aus gewerkschaftlichen Kreisen. Über Tode, selbst gewählte zumal, ist man nicht öffentlich erleichtert. Der lärmende Spuk, das Bomben und Schießen, hatte ein beklemmendes Ende gefunden.
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