Wie es ist, mehrere Menschen zu lieben: Du und ich und ich und er
Sie lieben nicht einen Partner, sondern führen mehrere Beziehungen gleichzeitig - mit Wissen und Einverständnis aller Beteiligten. Macht Polyamory glücklich?
Der Begriff "Polyamory" tauchte erstmals Anfang der Neunzigerjahre auf und ist ein Hybrid aus dem griechischen Wort poly (= viele) und dem lateinischen Begriff für Liebe, amor. Polyamore Menschen führen Liebesbeziehungen mit mehr als einer Person. Im Unterschied zu einer offenen Beziehungen betonen sie die emotionale Zuneigung zu mehreren Menschen. Sex ist dabei nicht ausgeschlossen, aber nicht das entscheidende Kriterium. Eine polyamore Beziehung setzt absolute Gleichberechtigung, Ehrlichkeit und Kommunikationsbereitschaft voraus. Polyamore tauschen ihre Erfahrungen in Internetforen aus, zudem gibt es in größeren Städten sogenannte Poly-Stammtische. Insgesamt dürfte die Szene in Deutschland ein paar hundert "Aktive" umfassen.
Karins zweiter Ehering hängt an einer Kette um ihren Hals. Den anderen, den "richtigen", trägt sie am Ringfinger. So wie es verheiratete Paare eben tun. "Leider", sagt die 47-jährige. "Leider darf man sich in Deutschland ja nicht mit mehreren Partnern verheiraten." Rainer, ihr Ehemann, sitzt am anderen Ende der roten Couch und nickt grinsend. Der 53-Jährige hat "zwischen zwei und fünf Beziehungen, je nachdem, wie man es sieht" neben Karin. Seit 20 Jahren sind die beiden ein Paar und seit neun Jahren verheiratet. Seit etwa fünf Jahren nennen sie sich "polyamor" oder einfach nur "poly".
Polyamory, zusammengesetzt aus dem griechischen Wort "poly" (viel, mehrere) und dem lateinischen Wort für Liebe, "ist ein Oberbegriff für die Praxis, Liebesbeziehungen zu mehr als einem Menschen zur gleichen Zeit zu haben, mit vollem Wissen und Einverständnis aller beteiligten Partner". So steht es im Internetlexikon Wikipedia geschrieben. Die erste Version des Eintrags stammt aus dem Jahr 2004. Seitdem wurde er mehrere Male verändert und ausgebaut, sodass der Besucher mittlerweile einen gewaltigen Eintrag von knapp 60.000 Zeichen vorfindet (zum Vergleich: der Artikel über Homosexualität ist mit 70.000 Zeichen nur unwesentlich länger).
Karins und Rainers Leben ist geprägt von den Ausläufern sexueller Befreiung. Sie verbrachten ihre Studentenzeit in Seminaren über Wilhelm Reich und diskutierten über alternative Lebensformen. Nach und nach begannen sie schließlich, abseits vom sozialen Mainstream mit seiner Kleinfamilie und gelegentlichen Seitensprüngen, ihr Leben so zu gestalten, wie es ihren Bedürfnissen am ehesten entsprach: keine Monogamie, sexuelle wie emotionale Freiheit, dabei absolute Ehrlichkeit. Sie leben ein sehr offenes Beziehungskonzept, für das es seit kurzem auch einen eigenen Namen gibt. Alles nicht so neu eigentlich. Klingt nach 70ern, freier Liebe und Swingerclub. Aber davon distanzieren sich sowohl Rainer und Karin als auch die Polyamoren insgesamt. Im Gegensatz zur "offenen Beziehung" oder dem Konzept der freien Liebe, bei der die Nichtausschließlichkeit im sexuellen Bereich liegt, geht es ihnen um Liebesbeziehungen mit mehreren Menschen. Sex ist dabei natürlich nicht ausgeschlossen, aber eher natürliche Folge als Ursache einer emotionalen Zuneigung. Die Polyamoren sammeln sich in Internetforen wie polyamory.ch und polyamory.de, schreiben Blogs und treffen sich in fast jeder größeren Stadt zu einem "Poly-Stammtisch", um ihre Erfahrungen auszutauschen und sich gegenseitig Tipps zu geben. Bücher wie "Frühstück zu dritt" fungieren als Standardwerke - darin kommen zahlreiche Polyamore zu Wort, darunter auch Rainer.
Auch das Klischee, wonach Polyamory nur etwas für ältere Paare sei, die ein bisschen Schwung in die angestaubte Beziehung bringen wollen, ist so nicht richtig: "Ich frage mich, was ich getan hätte, wenn ich nicht über dieses Wort gestolpert wäre", sagt Julia. Die 26-Jährige führt seit Anfang des Jahres eine Beziehung zu zwei Männern. "Das war eine Befreiung. Mir wurde klar: Da gibt es Leute wie ich. Das ist keine verrückte Idee." Seit ein paar Monaten schreibt sie in ihrem Blog polyamor.blog.de über die alltäglichen Gedanken einer jungen, polyamoren Frau. Hier zitiert sie den Dichter Rainer Maria Rilke: "Je mehr Liebe man gibt, desto mehr besitzt man davon." Klingt schön, klingt einfach. Ist es aber nicht.
"Gelebte Polyamory ist harte Arbeit", sagt Martin "Jay", 35 und Betreiber der Webseite polyamor.de. "Eine solche Lebensweise erfordert hundertprozentige Ehrlichkeit und ständige Kommunikation untereinander." Jeder Zweifel, jede Verletzung und Regung von Eifersucht muss thematisiert werden. Martin befindet sich in seiner zweiten polyamoren Beziehung. Seine Freundin lebt in Hamburg, die wiederum hat neben Martin noch einen Freund in Paris. Schwul sei er nicht, aber er habe keine Berührungsängste, wie er sagt. Polyamory muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass alle drei - oder mehr - Partner jeweils Beziehungen untereinander führen. Wichtig ist nur, dass kein Partner hintergangen wird. Ehrlichkeit und absolute Gleichberechtigung sind die Säulen einer solchen Beziehung. Der Kampf gegen das Gefühl der Eifersucht ein ständiger Begleiter: "Unsere Kultur ist durchzogen vom Ideal der monogamen Zweierbeziehung. Dabei bewerten wir Eifersucht sehr eigenartig. Habsucht, die Sucht, Dinge zu besitzen und sie anderen zu missgönnen, ist eindeutig negativ belegt", sagt Martin. "Eifersucht ist der Wille, einen Menschen zu besitzen und ihn anderen zu missgönnen. Die ist gesellschaftlich aber vollkommen anerkannt."
Und was ist mit der Intimität, der Exklusivität, dem wunderbaren Gefühl, für einen Menschen alles zu sein? Zerfasert nicht die Liebe, wenn man sie aufteilt, zersplittert, sie teilt? Wird hier nicht der letzte Hort Romantik an die Konsumgesellschaft verschachert? "Meiner Meinung nach kann man nur als Polyamorer einen anderen Menschen zweifelsfrei lieben", sagt Martin. "Angenommen, du bist seit Jahren in einer stabilen Zweierbeziehung. Routine hat sich eingeschlichen. Und dann bist du auf einer Party und triffst eine Person, die du wahnsinnig aufregend findest. Als Monogamer machst du dir Vorwürfe, zweifelst an der Liebe zu deinem Partner und an deinem Partner. Du stehst unter Entscheidungsdruck, du bist unglücklich. Dabei möchtest du einfach mit beiden Personen zusammen sein."
In den USA ist aus den Polyamoren eine kleine Bewegung geworden. Sie fordert rechtliche Gleichbehandlung. Dazu gehören: gemeinsames Sorgerecht für Kinder, Regeln für die Erbfolge, Krankenhausbesuche, alles, was monogamen Paaren eben auch zusteht.
Auch Karin und Rainer hätten nichts gegen eine rechtliche Gleichstellung mit monogamen Lebensformen. Aber das ist Zukunftsmusik. Einmal hielt Julia Seeliger von der Grünen Jugend eine Rede mit dem Titel "Ist Monogamie die Lösung?". Das sorgte für ein bisschen medialen Wirbel und war dann schnell wieder vorbei. Und die Landrätin Gabriele Pauli (CSU) verharrte mit ihrem Vorschlag, die Ehe auf sieben Jahre zu begrenzen, beim Konzept der seriellen Monogamie. So wichtig ist die gesetzliche Anerkennung für Karin und Rainer allerdings auch nicht. Viel wichtiger ist es, letzte Reste monogamer Prägung loszuwerden: "Früher war unser gemeinsames Bett immer Sperrzone", sagt Karin. "Ich war nicht eifersüchtig auf seine sexuellen Kontakte mit anderen Frauen, aber ich brauchte unser gemeinsames Bett als sicheren Schutzraum, der nur uns gehörte. Aber mittlerweile ist auch das kein Problem mehr." Letztens, erzählt sie, wäre sie gerade in Hamburg bei Holger, ihrem zweiten Mann, gewesen, als Rainer sie am Handy anrief. "Er war so glücklich. Er hatte sich gerade verliebt und musste es mir erzählen." Rainer grinst. Dann erzählt er, wie er zum ersten Mal Karin und Holger beim Sex zusah und er sich dazulegte. Und dann grinsen beide.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen