90 Jahre Oktoberrevolution: Die parfümierte UdSSR

Mit der Oktoberrevolution wurde der Kommunismus einst Realität. Heute erlebt er eine Renaissance. Wie Putin die russische Seele rettet - und eine Aufarbeitung verhindert.

Aus der Vergangenheit hervorgrkramt: die Verherrlichung des Staates und seiner führenden Kaste. Bild: dpa

Im November 2004 wurde der Tag der Oktoberrevolution - seit 1991 umbenannt in "Tag der Eintracht und Versöhnung" - zum letzten Mal offiziell gefeiert. Umfragen zeigen jedoch, dass der offiziell an seine Stelle getretene, neue Nationalfeiertag Russlands, der "Tag der Einheit des Volkes" (begangen am 4. November), von den meisten Russen nicht akzeptiert wird. Der Grund der Ablehnung wird auf die langjährige, prägende Tradition zurückgeführt, am 7. November der Oktoberrevolution feierlich zu gedenken: Seit den 1920er-Jahren bis zum Jahr 1991 war dieses Datum der wichtigste Nationalfeiertag der Sowjetunion. Das ganze Land ging zur Parade und feierte mit pompösen Aufmärschen den Sieg der Kommunisten im Jahr 1917. Schon seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion interessierten sich allerdings viele russische Bürger nicht mehr für den politischen Hintergrund des Tages der Oktoberrevolution. Für knapp die Hälfte der Russen war das "ein ganz normaler Feiertag", und die meisten nahmen auch nicht mehr an den üblichen Demonstrationen und Festlichkeiten teil.

"Oktober-Preis-Revolution" verheißen gestählte Matrosen auf rotem Banner in der Parfümeriekette Prestige-Arbat. 90 Jahre nach der Revolution lässt sich mit dem "Roten Oktober" in Moskau wieder trefflich werben. Dem Agitprop der 1920er-Jahre sind die Plakate nachempfunden. Damals agitierte die kommunistische Partei in Hygienekampagnen die ländlichen Massen noch für Seife und regelmäßige Körperpflege. Heute finden duchi - Düfte - aus den führenden Modehäusern der Welt in Moskau reißenden Absatz, auch ohne großartig beworben zu werden. Kosmetik boomt in Russland, buchstäblich und im übertragenen Sinn.

Die Werbestrategen haben etwas Wichtiges erkannt: Revolutionsästhetik und Formensprache des sozialistischen Realismus sprechen den Käufer nicht nur an. Nach wie vor ist dies die einzige Sprache, in der sich alle Bürger miteinander verständigen können. Russland sucht ein neues Medium, hat es aber auch 16 Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus noch nicht gefunden. Was bisher herauskam, ist ein Hybrid: die Verquickung von Nostalgie, Revolutionsromantik und knallhartem Kapitalismus.

Am 90. Jahrestag werden keine Paraden mehr abgehalten, und auch die Führung winkt vorbeiziehenden Massen nicht mehr von der Tribüne des Lenin-Mausoleums zu. Das große Fest findet nicht mehr statt. Einst war es einer der Höhepunkte der sowjetischen Feiertage: ein Fest, das der kommunistischen Nomenklatura Gelegenheit bot, die Einheit von Volk und Führung zu inszenieren. Inzwischen feiern Volk und Führung getrennt. Die Nostalgie nach dem Herzstück der sowjetischen Vergangenheit hat sich bei den Bürgern aber erhalten. Seit 2005 gibt es nun einen anderen historischen Anlass und einen neuen Feiertag, der am 4. November begangen wird. Die Wahl des Termins geschah mit Rücksichtnahme auf die liebgewordene Tradition, Anfang November ein wenig auszuspannen. Bei der Auswahl kam Wladimir Putin der orthodoxe Kirchenkalender zu Hilfe.

Nun ist es der "Tag der Einheit", der auf das Jahr 1612 zurückgeht. Damals hatte eine Volkswehr den Moskauer Kreml von der polnischen Besatzung befreit. Die russische Duma erhob dieses Ereignis rückwirkend zum entscheidenden Datum, mit dem die Zeit der politischen "Wirren" (smuta) ein Ende fand. Präsident Wladimir Putin würdigte das Ereignis als eine "Befreiung durch den Zusammenschluss des Volkes". Solange man eine solche Einheit im Innern spüre, werde Russland unbesiegbar bleiben.

Auch Putin versteht sich als Garant der Stabilität, der mit den "Wirren" seines Vorgängers Boris Jelzin aufräumte und Russland in die Liga der respektierten Großmächte zurückführte. Der Tag der Einheit ist somit auch sein Tag. Nur wenige Bürger können mit dem Datum jedoch etwas anfangen. Noch findet sich der feierliche Anlass in keinem Geschichtsbuch und ist historisch auch nicht genau belegt.

Das entspricht aber durchaus der Handhabung und dem lockeren Umgang mit Geschichte in Russland, das auf der Suche nach einer nationalen Idee zwischen sowjetischen und russischen Anknüpfungspunkten oszilliert und sich dabei hemmungslos des Arsenals nationaler Mythen bedient. Das Ergebnis ist die Konstruktion einer russisch-sowjetischen Mischidentität.

Die Oktoberrevolution und die Geschichte des Kommunismus sind unterdessen aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden. Im Umfeld des 90. Jahrestags befassen sich weder eine zentrale Ausstellung noch ein Kongress von Fachhistorikern mit der Geschichte des Kommunismus und Stalinismus. Historiker, die sich der Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte widmen, sind eine Minderheit, die im akademischen Betrieb keine Karrierechancen hat. Die Zeit bleibt weitgehend unerforscht. Ehemalige KPdSU-Parteihistoriker sattelten um und bearbeiten nun historische Felder, die sich für die Konstruktion der nationalen Großmachtgeschichte eignen. Die Resultate erinnern oft mehr an Hagiografie denn an solide Geschichtswissenschaft. Im Sinne des englischen Historikers Eric Hobsbawm verstehen sie ihre Aufgabe in der "Erfindung von Tradition" und einer "nützlichen Vergangenheit".

Das erleichtert der Politik den eklektischen Zugriff auf die sowjetische Symbolik. Wladimir Putin führte 2001 die alte sowjetische Nationalhymne wieder ein, die sein Vorgänger durch die Melodie Glinkas "Ein Leben für den Zaren" ersetzt hatte. Den Wünschen der Armee entsprach er ebenfalls und gab ihr das Sowjetbanner mit sowjetischem Stern zurück. Verschiedene Vorstöße, Revolutionär Lenin aus dem Mausoleum zu holen und zu bestatten, wie er es gewünscht hatte, verliefen ergebnislos.

"Weder mit meinem Herzen noch mit meinem Kopf kann ich akzeptieren, dass unsere Mütter und Väter umsonst gelebt haben sollen", lautet das Credo des Kremlchefs. In seiner Wahrnehmung war auch der Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 - wie für viele russische Bürger - "die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts". Putin ist ein Mann aus dem Volk und er denkt auch wie seine Untertanen. Nicht das sowjetische System, sondern dessen Untergang empfindet die Mehrheit der russischen Bürger heute als Katastrophe.

In den 90er-Jahren wurde der Kommunismus aus der Geschichte Russlands ausgeklammert. Der Staat suchte damals nach symbolischen Traditionslinien und Legitimation im Zarenreich. Unter Putin muss sich niemand mehr schämen, der die kommunistische Vergangenheit würdigt. Allerdings wurden Oktoberrevolution und Kommunismus seit Putins Amtsübernahme im Rückgriff erfolgreich entideologisiert: so als hätte die Revolution weder mit der Verfügung über die Produktionsmittel noch mit Antikapitalismus etwas gemein. Das entspricht den Interessen der neuen Bourgeoisie im Kreml, die keine schlafenden Hunde wecken möchte. Das einzig Negative am Kommunismus sei die Ablehnung des Privateigentums gewesen, lässt sich einer Anordnung des Kremls an ein Kollektiv von Historikern entnehmen, das den Auftrag erhielt, ein neues Geschichtsbuch zu entwerfen.

Von der antikapitalistischen Ideologie gesäubert, bleibt von der Vergangenheit nur mehr Positives übrig, woran der Putinismus anknüpfen möchte und worauf er sich beruft. Da wäre zunächst der sowjetische Patriotismus. Er entstand in den Schützengräben des Großen Vaterländischen Krieges im Kampf gegen den Nazismus. Es war die eigentliche Geburtsstunde der UdSSR. Mit dem Sieg des Generalissimus Stalin über Hitler konnte die traumatische Vergangenheit des Großen Terrors in den 30er-Jahren übertüncht werden. Der Tag des Sieges am 9. Mai gilt inzwischen als der wichtigste Feiertag. Das ist kein Zufall. Die UdSSR ging als zweite Supermacht aus dem Zweiten Weltkrieg hervor. Keinem anderen war dies zu verdanken als Josef Stalin, der als Schöpfer der Supermacht und universeller Befreier in jüngster Zeit wieder in die Schulbücher aufgenommen wurde. Glaube an Russlands Größe, imperiale Mission und russischer Messianismus sind ideologische Versatzstücke, die den Diskurs des Putinismus beherrschen. Nach einem Schwächeanfall in den 90er-Jahren, so präsentiert sich der Kreml, ist es gelungen, die Linie der historischen Kontinuität wieder aufzunehmen. Der Staat ist wieder stark.

Der Kommunismus gehört in Russland der Vergangenheit an. Aber nicht dessen russisches Kernelement: die Verhimmelung des Staates und seiner führenden Kaste. Schon im Kommunismus war der Etatismus, die Staatsfixierung, nur eine andere Spielart des zaristischen Absolutismus. Putin hat diese Tradition erfolgreich wiederbelebt. Die Gesellschaft muss sich mit der Rolle eines Statisten begnügen, während sich der korrupte Staat zum wichtigsten Wirtschaftssubjekt aufschwingt und seinen Bürgern erneut einen besonderen Hang zum Kollektivismus andichtet. Das soll die Russen gegen Angriffe des westlichen Individualismus immunisieren und den außenpolitischen Isolationskurs rechtfertigen. Äußern einige Bürger dennoch gelegentlich mal Kritik, wird gegen sie mit willfährigen Kohorten mobil gemacht.

Die Restauration ist abgeschlossen, der Kommunismus ist tot, und dennoch lebt er im Putinismus ein zweites Leben. Ein wenig modernisiert und parfümiert.

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Jahrgang 1956, Osteuroparedakteur taz, Korrespondent Moskau und GUS 1990, Studium FU Berlin und Essex/GB Politik, Philosophie, Politische Psychologie.

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