Ideengeschichte: Unser geliebter Sozialismus
Die Geschichte einer heißen, aber vergeblichen Liebe. Die radikale Linke propagiert die sozialistische Revolution - und kommt über die Revolte nicht hinaus.
Wie kam eine studentische Protestbewegung, die, ursprünglich adrett gekleidet und gescheitelt, das Recht auf freie Meinungsäußerung auf dem Campus und eine demokratische Reform der Universitäten einforderte, zum Sozialismus als einer radikalen gesellschaftlichen Alternative?
Am Anfang steht eine Ausstoßung, der Ausschluss des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) aus der SPD. Diese erzwungene Selbstständigkeit zog wider Erwarten eine reale Selbstständigkeit nach sich. Die Studenten, vor allem in den späteren "Sturmzentren" Frankfurt am Main und Berlin, fühlten demokratisch, vertrauten, auch als Linke, der parlamentarischen Demokratie. 1966 führte dann die große Koalition zum Verlust des Bezugs zur parlamentarischen Ebene, zum Unvermögen des Parlaments, gesellschaftliche Auseinandersetzungen abzubilden. Dieses Unvermögen öffnete den Weg zur außerparlamentarischen Opposition. Die Notstandsgesetze wurden von den Linken als tendenzielle Beseitigung der parlamentarischen Demokratie gesehen, als schiefe Ebene hin zum autoritären Staat. Und der offizielle politische Diskurs litt unter dem Schwinden seiner Glaubwürdigkeit, nicht zuletzt, weil die westdeutsche Regierung die amerikanische Massenschlächterei in Vietnam unterstützte.
Christian Semler Jahrgang 1938, taz-Autor seit 1989, nahm in den Sechzigerjahren als Aktivist und Mitglied des Beirats des SDS an den Kämpfen der außerparlamentarischen Opposition in Westberlin teil. Auch er sah im Krisenjahr 1969 keine Möglichkeit, die auseinanderstrebenden Teile der Revolte unter sozialistischen Vorzeichen beisammenzuhalten. Da er die chinesische Kulturrevolution als erfolgreichen Aufstand gegen ein versteinertes Parteiestablishment verstand, lag es für ihn nahe, eine Parteigründung nach dem Vorbild der erneuerten KP Chinas als möglichen Ausweg zu sehen. Seine zehnjährige Arbeit in der KPD/AO heilte ihn von dieser Illusion. Seither ist er Sozialist auf freiem Fuß.
Nach der Bildung der großen Koalition drängte sich im Milieu der Linken geradezu der Gedanke auf, man könne fernab der staatlichen Institutionen gesellschaftliche Probleme mit den Mitteln der Selbstorganisation lösen. Gesagt - getan. Von der "Kritischen Universität" in Berlin über die Projektgruppen, die seit dem 2. Juni 1967 Studium und politische Aufklärungsarbeit unter der Bevölkerung zu verbinden suchten, bis hin zu den damals entstehenden selbst verwalteten Kinderläden breitete sich eine Gruppenkultur aus, die sich schroff von der als autoritär empfundenen herrschenden Praxis abhob - dies im Zeichen kollektiver, demokratischer Selbstbestimmung.
Zwischen dieser aktiv eingreifenden, "produktiven" Haltung und den Vorstellungen einer zukünftigen Gesellschaft bestand eine Brücke. Sie wurde von der Idee der gesellschaftlichen Selbstorganisation gebildet. Sozialismus konnte für die Linken nicht der SED-Staatssozialismus sein, dessen abschreckendes Beispiel ihnen täglich vor Augen stand. Aber Sozialismus war für sie auch kein unbekanntes Zukunftsterrain, von dem nur die unbefleckte Theorie kündet. Sozialismus, so dachten die Linken, wird nur gelingen, wenn sich unter kapitalistischen, also heutigen Bedingungen ein revolutionäres Bewusstsein herausbildet - durch Selbsttätigkeit.
Diese Selbsttätigkeit ging von einer Vernetzung unterschiedlicher gesellschaftlicher Initiativen aus, die sich auch und gerade im staatlichen Bereich einnisten sollten. Das Projekt des "langen Marschs durch die Institutionen" war ursprünglich überhaupt nicht als Anpassung an das kapitalistische Institutionensystem gedacht. Vielmehr sollten sich in den Institutionen subversive Gruppen bilden, die Sand ins Getriebe streuen, unterminieren, Verbündete gewinnen und Karrieren im Interesse der Unterdrückten umbiegen sollten. In den freien Berufen war an sozialistische Kollektive gedacht, Keime einer "revolutionären Berufspraxis".
Wo aber die Linken entscheidenden Einfluss gewinnen konnten, an den Universitäten, in manchen Bereichen der öffentlichen Versorgung und der Schulen, sollten sich wenigstens eine Zeit lang "befreite Gebiete" halten. "Langer Marsch", "befreite Zonen" - Metaphern, die der chinesischen Revolution entlehnt waren. Sie bezeugten nicht nur rhetorische Militanz, sondern den Willen, sich revolutionäre Erfahrung - unter den Bedingungen einer entwickelten kapitalistischen Gesellschaft - zu eigen zu machen.
Die Maulwurfsarbeit, die die Linken initiierten, schloss keinen gesellschaftlichen Sektor aus, nicht einmal sicher geglaubte Domänen der Bourgeoisie. Aber im Zentrum der Bemühungen zur Selbstorganisation sollten die "unmittelbaren Produzenten" stehen. Warum eigentlich? Wieso diese Hinwendung zu einer Vorstellung der Arbeiterklasse, die vor der Revolte als obsolet empfunden worden war? Nicht wenige der Studenten, die dem Arbeitermilieu entstammten, verfolgten diese Wendung teils mit gutmütigem Spott, teils mit Unglauben. Aber gar so abseitig waren diese Mühen nicht. Unter jungen Arbeitern und Lehrlingen ("Azubis", wie sie später genannt wurden) fiel der antiautoritäre, auf Selbstorganisation gerichtete Impuls der Studentenbewegung auf fruchtbaren Boden. Und über die Unzufriedenheit vieler ArbeiterInnen mit ihrer gewerkschaftlichen Führung war auch jenseits der Betriebsgelände einiges Aufregende in Erfahrung zu bringen.
Diesem Ziel, Erfahrungen zu sammeln und sie organisatorisch umzumünzen, dienten die "Basisguppen", die sich seit Sommer 1968 bei Berliner Großbetrieben ansiedelten, die Studenten und junge Arbeiter zusammenführten.
Die Vorstellung der Selbstorganisation kreiste hier um die Arbeiterkontrolle, eine vertraute Forderung aus dem linkssozialistischen Milieu, wo sie traditionell die Herrschaft der ArbeiterInnen über Arbeitsabläufe bedeutet hatte. Jetzt aber gewann sie eine umfassende, sich an der Idee der Arbeiterräte orientierende Bedeutung.
Solche Räte entsprangen nicht nur der historischen Reminiszenz. Sie hatten die ungarische Revolution 1956 ebenso begleitet wie später den Prager Frühling von 1968. Die Faszination, die von Fabrikbesetzungen und der Fortführung der Produktion durch die Arbeiter ausging, zeugte von diesem Kollektiv-Imaginären.
Die Arbeiterselbstverwaltung ging im Denken der Linken zusammen mit den technischen Möglichkeiten der Planung auf betrieblicher wie gesellschaftlicher Ebene. Die Fusion von technisch vermittelter Beherrschbarkeit von Organisation/Produktion und Produzentendemokratie stand dabei im Zentrum der Überlegungen.
Auf der staatlichen Ebene erschien den radikalen Linken das Rätesystem als gangbare Alternative zum sinnentleerten Parlamentarismus. Die Räte waren als gesetzgebende und vollziehende Gewalt gedacht, das Mandat war basisbezogen, sie selbst waren jederzeit rückrufbar. Allgemein wurde die Pariser Kommune von den Linken als Keimzelle des Rätesystems gesehen, wie auch die Proklamation der kurzlebigen Schanghaier Kommune während der Kulturrevolution als Wetterleuchten einer künftigen Organisation des "Nochstaates" begriffen wurde. Die radikale Linke verwarf die Arbeitsteilung, soweit sie zur Herausbildung einer bürokratischen Staatskaste geführt hatte. Lenins am Vorabend der russischen Revolution geäußerte Vorstellung, jede Köchin müsse in der Lage sein, die Staatsgeschäfte zu leiten, galt den radikalen Linken nicht als Apercu, sondern als objektiv mögliches Projekt. Dieser Kult der Unmittelbarkeit, die Absolutsetzung der direkten Demokratie, entsprach der Massendemokratie auf dem studentischen Campus, die tatsächlich drei Jahre lang funktionierte.
Die Vorstellung vom Sozialismus/Kommunismus wurde nicht in Etappen gedacht. Sie wurde von der Annahme eines gesetzmäßigen Übergangs befreit. Fortschritt lag nicht objektiv in der gesellschaftlichen Entwicklung begründet, sondern die historische Kontingenz, das mögliche Scheitern, wurde stets mitbedacht.
Der Kapitalismus galt als überreif, wovon die Beliebtheit der Formel "S&F" ("Stagnation und Fäulnis") zeugte. Welcher ökonomischen Theorie die radikalen Linken auch anhingen, ihnen allen war gemeinsam, dass sie die ökonomische Krise von 1966/67 nicht als ein normales Tief im Konjunkturzyklus deuteten, sondern als das "Ende des Wirtschaftswunders", als Zäsur mit allen auch politisch fatalen Folgen. Innerhalb der Linken wurde die Vorstellung vom Umschlagen kapitalistischer Produktivkräfte in Destruktivkräfte populär. Dem gegenüber galt es, im Sozialismus vom Tauschwert als Bezugsgröße abzugehen und den Gebrauchswert, die Herstellung gesellschaftlich nützlicher Produkte, als alleiniges Kriterium der Produktion zu etablieren. Die radikalisierten Linken aller Couleurs einte damals das Gefühl, als politische Akteure inmitten einer ungeheuer beschleunigten gesellschaftlichen Entwicklung zu handeln und Teil einer weltweiten revolutionären Bewegung zu sein.
Die Erstürmung der Zitadelle von Hue durch die vietnamesischen Befreiungsstreitkräfte im Februar 1968 wurde als ein Ereignis erlebt, dem man unmittelbare Bedeutung für die eigene politische Praxis, ja die eigene politische Existenz zuschrieb. Die marxistische Orthodoxie war von festen raumzeitlichen Koordinaten ausgegangen, festgelegten Etappen im zeitlichen Ablauf des revolutionären Prozesses, festgelegten Bündniskonstellationen im "sozialen Raum". Die sozialistische Revolution als notwendiges Ergebnis der kapitalistischen Krisenentwicklung.
Für die Aktivisten des Jahres 1968 galt dieses lineare Dahinfließen der Zeit nicht mehr. Sie glaubten, als Handelnde in einem "erfüllten Augenblick" zu leben, in dem das Jetzt nicht nur ein flüchtiges Durchgangsstadium ist, sondern Vergangenheit und Zukunft zusammenfließen. Ein seelischer Zustand, in dem - in der Französischen Revolution - die Revolutionäre auf Turmuhren schossen, um den Lauf der Zeit anzuhalten. Hierfür hatten die (zahlreichen) Philosophiestudenten unter den radikalen Linken einen Begriff der antiken Philosophie: Kairos.
Wie die Zukunft für die Linken Studenten kein festgelegtes Ergebnis hatte, so war auch die Geschichte kein Buch, das - aufgeschlagen und richtig gelesen - revolutionäre Lehren bereithielt. Denn Geschichte wurde von den Siegern geschrieben, auch die linke Geschichte. Deshalb galt es, den Spuren der Verfemten und Ausgeschlossenen, der Exilierten nachzugehen, sie wie Archäologen dem Trümmerschutt zu entreißen. Zu ihnen, Karl Korsch etwa oder Georg Lukács, entwickelten die revolutionären Linken eine geradezu intime Beziehung. Man sprach, verhandelte, haderte mit ihnen, als hätten sie an den Kämpfen der Gegenwart als Zeitgenossen teil.
Die Selbstgewissheit sowie ihr folgend die Selbstermächtigung von ein paar tausend linken Intellektuellen zum Motor der sozialistischen Revolution in der Bundesrepublik war stets in Gefahr, die Grenzen zum Größenwahn zu überschreiten. Wie die eigene produktive Arbeit, selbstbestimmte linke Kerne in der Gesellschaft zu pflanzen, in ihrer Wirksamkeit überschätzt wurde, so traute man dem Kapitalismus und seinem Staat in der Bundesrepublik keine neue Dynamik zu. Das rächte sich mit dem Machtantritt der sozialliberalen Koalition und dem demokratischen wie ökonomischen Reformpotenzial, das ihr zumindest anfangs zugetraut wurde.
Die Vorstellung von der "Aktualität des Kommunismus", so der Titel einer bekannten Arbeit Rossana Rossandas, verdrängte die unbequeme, aber nicht wegzuleugnende Tatsache, dass überkommene Institutionen nicht einfach Instrumente der herrschenden Klasse, sondern, wie die Idee des Rechtsstaats, das Produkt eines langwierigen Zivilisationsprozesses sind. Die radikale Linke war antiinstitutionell, wie auch ihr sozialistisches "Projekt" von der Selbstorganisation "der Massen" und deren Bedürfnissen getragen war. Dem hatte die Organisationsarbeit sich anzupassen. Dieser Antiinstitutionalismus machte in den Jahren 1966 bis 1969 das Anziehende der linken Idee von Sozialismus aus, verbürgte aber auch ihr Scheitern.
Die radikalen Linken konnten das Problem einer Verstetigung des revolutionären Prozesses nicht lösen. Niemand wollte sich 1969 schlafen legen, und es bestand breite Übereinstimmung darin, die soziale Basis der Revolte zu verbreitern. Aber wie, kraft welcher organisatorischen Anstrengung? Wie konnte es gelingen, den entpolitisierenden Wirkungen der kapitalistischen Subkultur entgegenzutreten? Ein Teil der Linken schwenkte ab zu den traditionellen Organisationsformen der Arbeiterbewegung, ein zweiter setzte weiter auf linke gesellschaftliche Selbstorganisation, jetzt im Bündnis mit Teilen der Gewerkschaft, und ein dritter wandte sich der Neugründung von kommunistischen Bünden und Parteien zu. Politisch ist es keiner dieser Gruppen gelungen, ihre ursprüngliche Idee des Sozialismus über die Zeiten der Revolte hinaus am Leben zu erhalten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!