Evangelikale Wähler: Politik des Irdischen

Amerika sei in der Krise, predigt Pastor Brown. So gehe es nicht weiter, das missfalle dem Herrn. Auf die Stimmen seiner Schäfchen werden sich die Republikaner diesmal nicht verlassen können.

"Jesus würde das auch tun", glaubt Pater Brown. Bild: Sebastian Moll

NEW YORK taz Pastor Carlton Brown rinnt der Schweiß von der Stirn, immer wieder schlägt seine Stimme in markerschütterndes Röhren um. Der schwarze Geistliche ist richtig in Fahrt: "Die Vereinigten Staaten von Amerika brauchen Wandel und Erneuerung", donnert er seiner Gemeinde entgegen. "Amen!", rufen die anderthalbtausend Gottesdienstbesucher und springen von den Bänken der vollen Kirche an der 120. Straße in Harlem auf. "Amen and halleluiah!"

Evangelikale sind Protestanten, die sich auf die Irrtumsfreiheit der Bibel berufen. Die größte evangelikale Kirche der USA sind die Baptisten mit rund 18 Millionen Anhängern, gefolgt von der rasant wachsenden Pentecostal-Kirche. Die Evangelikalen werden mit Fanatismus, Fundamentalismus und politischem Konservativismus assoziiert, insbesondere seit George W. Bush

- selbst bekennender Evangelikaler - seine innenpolitische Machtbasis auf diese Wählerschaft gestützt hat.

Historisch gesehen ist das Bild wesentlich komplexer. So war etwa die schwarze Bürgerrechtsbewegung der 60er-Jahre auch evangelikal geprägt, ihre Galionsfigur Martin Luther King war Baptistenprediger.

Die Weltsicht der Evangelikalen ist rechtskonservativ. Sie sind gegen Abtreibung und pluralistische Lebensstile, für die Todesstrafe und gegen staatliche Sozialmaßnahmen - soziale Hilfe wird als Aufgabe der Kirchen gesehen.

Im Wahlkampf 2008 kämpfen die Kandidaten heftig um diese Wählergruppe. Insbesondere durch den Irakkrieg hat Bush die evangelikale Basis der Republikanischen Partei verprellt. Der Super Tuesday am 5. Februar wird zeigen, wem sie sich zuwenden.

Brown predigt heute über einen seiner Lieblingstexte: die biblische Geschichte von Jesus und der Samariterin. Die Parabel rührt an den Kern der Theolgie, auf der Pastor Browns Glaubensgemeinschaft fußt. Die amerikanischen Pentecostals, die am schnellsten wachsende evangelikale Kirche der USA, lehren wie viele protestantische amerikanische Konfessionen die Wiedergeburt. Wenn der Gläubige sein Herz Jesus Christus öffnet, lautet die Botschaft, dann kann er seine Sünden hinter sich lassen und ein neues Leben beginnen. So wie die sündige Samariterin, die erkennt, dass Jesus alles ist, was sie braucht, um sich zu wandeln.

Aber es ist an diesem Januarsonntag nicht nur der persönliche Wandel, über den Pastor Brown spricht. Es ist kein Zufall, dass sich jene Vokabel als roter Faden durch Browns Predigt zieht, auf die Präsidentschaftskandidat Barack Obama seine Kampagne aufbaut. Change - das ist es, was das Land nötig hat, mindestens ebenso sehr wie die armen Sünder in der Bethel Gospel Assembly.

Über die Milliarden Dollar, die im Irak verschwendet werden, wettert der Pastor und darüber, dass gleichzeitig Millionen Amerikaner in Armut leben. Im reichsten Land der Erde hätten die Menschen keine Krankenversicherung, und direkt hier, in dieser Nachbarschaft, würden hunderte Familien wegen der Hypothekenkrise ihr Heim verlieren. Das ginge so nicht weiter, das missfalle dem Herrn. Amen.

Vor drei Jahren wäre es in einer evangelikalen Kirche in Amerika noch undenkbar gewesen, dass unverhohlen gegen die konservative Regierung und für soziale Gerechtigkeit gepredigt wird. Noch im Wahlkampf 2004 waren die evangelikalen Christen in Amerika die stärkste Wählerbasis von George W. Bush. Wesentlich deutlicher als 2000 hatte sich Bush als der Mann der religiösen Rechten positioniert, als derjenige, der gegen Abtreibung und Schwulenehe ist, als Bastion gegen den moralischen Verfall der modernen Gesellschaft. Schließlich war er ja selbst ein Wiedergeborener, und er hatte gezeigt, dass er nicht einmal vor einem heiligen Krieg zurückschreckt, um das Gute und Rechte zu verteidigen.

Doch das Bild hat sich gewandelt. George Bush hat die Evangelikalen wenn nicht komplett vergrault, so doch zumindest tief gespalten. Der Hauptgrund ist zweifelsohne der Irakkrieg. Bill Hybels, ein junger evangelikaler Priester aus Chicago, der als derzeit vielleicht einflussreichster Geistlicher Amerikas gilt, sagte jüngst in einer Predigt: "Wenn ihr euch fragt, wie Gott über die Särge denkt, die aus dem Irak kommen, kann ich euch sagen: Es bricht sein Herz." Und die evangelikale Zeitschrift Christianity Today stellte jüngst die Frage, ob Evangelikale nicht Buße tun sollten, weil sie so vorschnell die Irakinvasion unterstützt hätten.

Bush hat Verhältnisse in Amerika ins Wanken gebracht, die seit beinahe dreißig Jahren als unverrückbar galten. Damals übernahmen in einem staatsstreichartigen Manöver ultrakonservative, fundamentalistische Kräfte die größte religiöse Vereinigung der Vereinigten Staaten, die Southern Baptist Convention. De facto ist die Convention die Versammlung der Baptistengemeinden in den ganzen USA, die regionale Abgrenzung im Titel ist ein Überrest aus der Entstehungsgeschichte der baptistischen Kirche. Die Vereinigung hat 18 Millionen Mitglieder - ein Wählerblock, auf den seit Ronald Reagan jeder republikanische Politiker bauen konnte.

Doch unter Bush sind die evangelikalen Christen in Amerika politisch obdach- und orientierungslos geworden. Keiner der republikanischen Präsidentschaftskandidaten vermag die Evangelikalen hinter sich zu bringen - nicht der Mormone Mitt Romney und auch nicht John McCain, weil er verspricht, den Irakkrieg mit aller Macht bis zum blutigen Ende zu führen. Und auch der ehemalige Baptistenprediger Mike Huckabee vermag die religiöse Rechte nicht zu einen, weil man ihm nicht zutraut, sich gegen einen demokratischen Kandidaten durchzusetzen. "Es gab eine Zeit, da waren evangelikale Kirchen so etwas wie die republikanische Partei beim Gebet", schreibt Marvin Olasky, Redakteur des evangelikalen Magazins World. "Jetzt sieht es so aus, als hätten es die Republikaner vermasselt. Der Ball liegt definitiv im Feld der Demokraten."

Das wissen die Demokraten, und sie tun derzeit alles, um diese Situation auszunutzen. Für vergangenen Mittwoch, rechtzeitig vor dem Super Tuesday am 5. Februar, wenn in 22 Staaten über Kandidaten abgestimmt wird, hat der ehemalige demokratische Präsident Jimmy Carter in Atlanta die baptistischen Anführer des Landes zu einer Konferenz geladen. Carter nennt das Treffen "new Baptist covenant", neuer baptistischer Bund. Mitveranstalter sind Al Gore und Bill Clinton. Die demokratischen Schwergewichte wollen mit den Kirchenoberen neu verhandeln, was die Baptisten ideologisch verbindet. Der gemeinsame Glauben an Jesus Christus soll von traditionellen konservativen Themen wie Abtreibung entkoppelt und etwa mit Ökologie und sozialer Gerechtigkeit verknüpft werden. Es ist nicht weniger als der Versuch, die konservative Übernahme der baptistischen Kirche von 1979 rückgängig zu machen.

Auch die demokratischen Kandidaten wittern ihre Chance bei den Evangelikalen. Sowohl Barack Obama als auch Hillary Clinton legen Wert darauf, sich als vorbildliche Christen darzustellen. Obama erzählt jedem, der sie hören will, die Geschichte, wie er 1988 in die United Trinity Church of Christ in Chicago trat und von der Predigt von Reverend Jeremiah Wright, Jr. so gerührt war, dass er auf der Stelle Jesus Christus in sein Herz schloss. Und Hillary Clinton trägt ihren methodistischen Glauben auffällig vor sich her und flirtet offen mit evangelikalen Anführern wie dem ultrakonservativen James Dobson, Gründer der mächtigen Organisation Focus on the Family. Und John Edwards, Sohn eines südlichen Baptisten, betont unaufhörlich, dass er durch den Tod seines Sohnes 1996 in den Schoß von Gott und Kirche zurückgefunden habe.

Im liberalen New York, wo am Super Tuesday ebenfalls Vorwahlen stattfinden, ist der Linksschwenk der Evangelikalen schon größtenteils vollzogen. So predigte Pfarrer Calvin Butts von der Abyssinian Baptist Church in Harlem unzweideutig die Umverteilung in schweren Zeiten, gegen die sich die republikanische Partei mit Händen und Füßen sträubt.

Er habe einem Bettler misstraut, erzählt er seiner Gemeinde, habe geglaubt, dieser werde sich mit den 20 Dollar, die Butts ihm zusteckte, Alkohol oder Drogen kaufen. Doch nichts dergleichen sei passiert - der Mann habe sich einen warmen Mantel und etwas zu essen besorgt. Die Botschaft ist klar: Das konservative Vorurteil, die Bedürftigen wollten gar nichts aus sich machen und man unterstütze mit Sozialhilfe nur deren Trägheit, ist falsch. Eine Woche nach der Predigt gab Butts bekannt, dass er den Wahlkampf von Hillary Clinton unterstütze.

So weit, sich hinter einen demokratischen Kandidaten zu stellen, ist Pastor Brown von der Bethel Gospel Assembly noch nicht. Vielleicht noch bedeutsamer ist jedoch, dass die Bush-Jahre ihn dazu gebracht haben, seine theologischen Grundannahmen zu überdenken.

Im traditionellen evangelikalen Denken ist die moderne Welt zutiefst moralisch verrottet und dem Untergang geweiht. Das Jüngste Gericht steht bevor, und nur in der Kirche und im Glauben liegt noch Heil. Die Welt ist ohnehin nicht mehr zu retten, und deshalb muss man sich mit ihr auch nicht mehr groß abgeben. Es ist dieses Weltbild, das sowohl dazu geführt hat, heilige Endzeitkriege anzuzetteln, als auch das ungeborene, vorweltliche Leben über das diesseitige zu stellen, indem man Abtreibung verbietet, aber die Mütter und Väter verhungern lässt.

"Wir glauben immer noch daran, dass das Jüngste Gericht bald kommt", sagt Pastor Brown ein paar Tage nach seiner feurigen Predigt, er sitzt im Strickpullover hinter seinem Schreibtisch. "Wir glauben nicht wie die Katholiken, dass man durch gute Werke seine Seele retten kann. Aber es folgt doch automatisch aus meiner Zuwendung zu Jesus Christus, dass ich Dinge tue, die er auch getan hätte. Wir müssen uns doch mit etwas beschäftigen, bis sein Reich kommt."

Die Armen speisen, ihnen medizinische Versorgung verschaffen, sie davor bewahren, von den Hypothekenhaien aus ihrem Heim geworfen zu werden beispielsweise. Dinge, die beim großen Kampf zwischen Gut und Böse, den die Konservativen und die Evangelikalen jahrzehntelang Schulter an Schulter geführt haben, meist unter den Tisch gefallen sind.

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