Punk-Erfinder The Sonics: Strychnin feiern, Psycho besingen

Nach über 30 Jahren feiert die amerikanische Garagenrockband The Sonics ihre Reunion. Am Wochenende geben sie in London ihr allererstes Europa-Konzert.

Iros hoch: The Sonics kommen. Bild: dpa

Große Konzerte verlangen nach großen Hallen. Wenn aber Legenden auferstehen, darf der Ort bescheiden sein, Hauptsache, er verfügt über Charakter - der Rest ist dann beinahe egal. So gesehen hätte der Ort kaum besser gewählt sein können. Im Warsaw, einem Club am Rande des hippen Bezirks Williamsburg im New Yorker Stadtteil Brooklyn, hatten sich kürzlich einige hundert Fans aus mehreren Erdteilen versammelt. Der Anlass war gleichzeitig ein Paradoxon. Mit den Sonics stand die Urzelle des Garagenpunk nach 30 Jahren wieder auf einer Bühne. Und zum ersten Mal war es eine Bühne von überregionaler Bedeutung.

Das erste Europa-Konzert der Sonics am morgigen Freitag in London ist bereits ausverkauft, für die Wiederholung am Sonntag gibt es noch Karten. Schon bei der Wiedervereinigung vor einigen Wochen in New York musste man Schlange stehen. Die Lederjacken und Parkas im Publikum hatten zwar sichtlich Patina angesetzt, und manch einer schien sie eigens für diesen Abend wieder aus dem Schrank geholt zu haben. Aber auch die jungen Fashion-Punks waren erschienen. Die Band selbst ist deutlich ergraut und Frontmann Rob Lind trägt zur Bundfaltenhose ein auberginefarbenes Hemd. Eine denkbar unglamouröse Angestelltenkluft - als wollte er sagen: Die Sonics brauchen sich nicht als Rockstars zu verkleiden. Sie sind schon welche.

Ihren legendären Ruf als ultimative Garagenband begründeten die fünf Jungs aus Tacoma vor Jahrzehnten. 1960 hatte der Gitarrist Larry Parypa in einem Kaff nahe Seattle ein paar Musiker um sich versammelt, um die damals so angesagte Surfmusik zu spielen. Nach drei Jahren stieß der Keyboarder Jerry Rosalie dazu. Die eigentliche Geburtsstunde der Sonics schlug erst Jahre nach ihrer formellen Gründung. Es war der Moment, an dem Rosalie das erste Mal den Mund auftat, um zu singen. Genau genommen sang er gar nicht. Der Sechzehnjährige schrie seine Texte vielmehr heraus mit einer Stimme, die klang, als würde ein entfesselter Irrer in ein Megafon hineinbrüllen. Einige der besten Sonics-Stücke beginnen mit diesem Urschrei des Rock n Roll, einem schrillen, ekstatischen Kreischen oder einem fauchend herausgepressten "Wow!".

Die Vorliebe der weißen Jungs aus dem Staate Washington galt dem schwarzem Rythm & Blues. Doch anders als die Blue-Eyed-Soul-Bands ihrer Zeit hielten sie sich nicht mit Imitaten auf. Sie schickten die Musik durch die Vorhölle eines Verstärkers und zerhackten sie dort zu Schreien und Geräuschen. Ihre Songs tauften sie auf möglichst dämonische Namen. Die erste Single, 1964 auf dem kleinen Platten-Label Etiquette erschienen, hieß "The Witch", der Nachfolger "Psycho". Der Erfolg war bescheiden: "Psycho" wurde nach einem Konzert in der Tacomas Curtis High School ein regionaler Hit. Etliche Radiostationen weigerten sich, Songs zu spielen, die unter anderem den Verzehr von Strychnin vorschlugen ("Some folks like water, some folks like wine, but I like the taste of straight strychnine").

Nach zwei Langspielplatten und hinteren Platzierungen in den Hitparaden lokaler Radiostationen in Cleveland, Ohio, misslang der Versuch, mit einem neuen Plattenvertrag die wilden Jungs zur massentauglichen Band zu zähmen. Die dritte LP "Introducing The Sonics" floppte 1967, die Band zerstritt sich über Nichtigkeiten und löste sich auf, bevor sie irgendeine Bekanntheit erlangt hatte. Erst als im Jahr 1977 unter dem Begriff Punk eine nachwachsende Generation aggressiver Dilettanten die Saiten kreischen ließ, erinnerten sich manche daran, dass es all dies schon einmal gegeben hatte. Ihren späten Weltruhm erlangten die Sonics erst auf Wiederveröffentlichungen. Nicht wenige halten sie für die erste echte Punkband, Jimi Hendrix zählte sich ebenso zu ihren Fans wie Kurt Cobain, und der Seattle-Sound wäre ohne das Erbe der Sonics vermutlich nicht denkbar.

Diese Bürde der Popgeschichte, der Ruf der lebenden Legende, lastete schwer auf dem New Yorker Konzert. Dem Vergleich mit ihren jüngeren Erben hält die ewig junge Musik locker stand. Die Sonics haben ein größeres Problem: Sie müssen sich an sich selber messen. Keine leichte Aufgabe, denn von der Originalbesetzung sind nur noch Gitarrist Larry Parypa, Saxofonist Rob Lind und der geniale Schreihals und Songschreiber Jerry Rosalie dabei, drei Musiker mussten ersetzt werden. Doch als der erste Akkord von "Boss Hoss" aus dem Verstärker dröhnte, riss es hunderte Arme in die Luft. Rosalies Stimme ist noch stets ein Naturereignis. Der Fender-Bass ist noch der alte, auch der Sound klingt beinahe wie vom Vinyl. Irgendwann stürzte ein Boxenturm ins Publikum vor der Bühne. Genau so könnte es damals bei den Konzerten im Red Carpet oder im Spanish Castle Ballroom auch zugegangen sein.

Natürlich stehen hier keine Highschool-Kids mehr auf der Bühne, Rosalies frenetische Schreie fehlen. Im Publikum nimmt das niemand übel, der Mann hat bereits eine Herztransplantation und eine schwere Nierenoperation hinter sich. Über dem historischen Moment, der sich nun auch in Europa ereignen soll, liegt daher eine gewisse Tragik. Das Problem der Band war niemals ihre Musik - sondern ihr Timing. Damals, in den Sechzigern waren die Sonics ihrer Zeit um mindestens zehn Jahre voraus. Heute, im 21. Jahrhundert, ist es für sie gut dreißig Jahre zu spät.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.