EU entfacht Wettbewerb im Nahverkehr: Landpartie in die Liberalisierung

Schärfere Wettbewerbsregeln bei Bus und Bahn sorgen in ländlichen Regionen für erbitterte Konkurrenzkämpfe. Vor allem regionale Busunternehmen stehen unter Druck.

Warten auf die Vorzüge der Liberalisierung: Buskunden. Bild: dpa

BERLIN taz Die Emotionen schlagen hoch im Wittenberg. In der Lutherstadt in Sachsen-Anhalt wird zur Zeit ein erbitterter Rechtsstreit um die Vergabe der kommunalen Verkehrsleistungen geführt. Ein Busunternehmen klagt dort gegen den Landkreis und die für die Ausschreibung Verantwortlichen. Die Vorwürfe sind heftig: Die Busfirma Scalar wirft ihnen Manipulation, Untreue und Bestechlichkeit vor. Das mittelständische Unternehmen hat seit Anfang der 90er Jahre Buslinien im Landkreis betrieben und ist im Herbst 2006 bei der Neuausschreibung der kommunalen Buslinien im Landkreis Wittenberg leer ausgegangen. Scalar-Chef Heinz-Jürgen Röthe vermutet dahinter kriminelle Energie: "Der Landkreis hat die Bewertungskriterien der Ausschreibung einseitig auf das Konsortium konkurrierender Busunternehmen zugeschnitten, das letztlich auch den Zuschlag bekommen hat." Zudem sei der öffentlichen Hand ein Millionenschaden entstanden, weil das siegreiche Angebot zu billig kalkuliert worden sei, behauptet Röthe. Der Landkreis weist die Vorwürfe als ungerechtfertigt zurück: "Es hat nie eine Bevorzugung eines Wettbewerbers gegeben", sagt Holger Zubke, Fachdienstleiter im Landkreis Wittenberg und zuständig für die Neuvergabe. Vom finanziellen Schaden für den Landkreis könne auch keine Rede sein: "Die Zahl der Fahrgäste hat sich seit der Neuvergabe verdoppelt", sagt Zubke.

Gut ein Jahr nach dem Eklat sehen die Chancen des Busunternehmers Röthe, das Ergebnis des Wettbewerbs auf dem Rechtsweg zu revidieren, nicht wirklich gut aus. Zwar hat das Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt die angefochtene Vergabe in einer ersten Entscheidung zunächst als fehlerhaft kritisiert, das Verfahren nach einer formalen Nachbesserung durch den Landkreis Wittenberg aber vorläufig genehmigt. Die Ermittlungen zu Röthes Korruptions-Vorwürfen in der Sache hat die Staatsanwaltschaft erst vor kurzem eingestellt, weil sich ein "Strafverdacht nicht bestätigt" habe. Bis Scalars Beschwerde gegen die umstrittene Ausschreibung von den Richtern endgültig entschieden wird, können noch Jahre vergehen.

Hinter dem Streit steht allerdings mehr als ein provinzielles Juristen-Hick-Hack. Es ist eine Auseinandersetzung von europäischer Tragweite, denn Wittenberg erprobt mit dem Segen der EU, wie in Zukunft Aufträge im öffentlichen Personennahverkehr vergeben werden könnten. Jährlich fließen in Deutschland zweistellige Milliardenbeträge öffentlicher Mittel in den Bereich. Um wieviel Geld es genau geht, darüber gibt es in Deutschland kaum exakte Zahlen. Bei dem Thema pflegen sowohl die Verkehrsunternehmen als auch die öffentliche Hand organisierte Unwissenheit. Nach Zahlen des Verkehrsforschers Felix Berschin bekam der straßenbezogene ÖPNV im Jahr 2000 etwa 9 Milliarden Euro öffentliche Mittel, der Schienenverkehr etwa 6 Milliarden. "Strukturell hat sich daran bis heute nichts geändert", sagt Berschin heute.

Mit dem "Wittenberger Modell" soll nun der Konkurrenzkampf zwischen konkurrierenden privaten Busfirmen vorangetrieben werden. Das liegt ganz auf der Linie der Europäischen Kommission, die mit ihren politischen Vorgaben seit Anfang der 90er Jahre daran arbeitet, den öffentlichen Personen Nahverkehr (ÖPNV) in Europa nach marktwirtschaftliche Kriterien umzugestalten.

Zuvor konnten Busunternehmen jahrzehntelang komfortabel sicheres Geld mit Transporten im öffentlichen Nahverkehr verdienen. Denn für die Vergabe der Genehmigungen, um etwa Buslinien oder Schülerbusse im ländlichen Raum zu bedienen, gab es keinen echten Wettbewerb. Kommunen konnten auf Grundlage des deutschen Personenbeförderungsgesetzes nach eigenem Ermessen Konzessionen für die Versorgung des Linienverkehrs oder den Transport von Schülern an private Firmen erteilen. Lange herrschte dabei eine Art Erbrecht. Doch mit der monopolartigen Gemütlichkeit ist es vorbei: Seit 1996 gilt auch in Deutschland eine entsprechende EU-Verordnung. Kommunen müssen seitdem mit Hilfe von Ausschreibungen versuchen, die beste Leistung zum niedrigsten Preis bekommen, sofern sie die Durchführung privaten Verkehrsunternehmen übertragen wollen.

Mit welchen Verfahren sich für mehr Wettbewerb sorgen lässt, darüber gehen die Meinungen auseinander. Europaweit werden unterschiedliche Vergabeverfahren angewendet. Die Regeln für die Vergabe von Aufträgen für öffentliche Verkehrsleistungen sind ein Dickicht aus Gesetzen, Verordnungen und Ausnahmeregelungen, die nicht zuletzt dazu dienen, nationale Verkehrsunternehmen vor dem europäischen Wettbewerb zu schützen. So werden Wettbewerber heute und auch in Zukunft ungleich behandelt. Kommunen dürfen weiterhin ihre Beförderungsleistungen direkt an ihre eigenen Verkehrsbetriebe vergeben, während sich private Anbieter als ÖPNV-Dienstleister immer im Konkurrenzkampf durchsetzen müssen.

Der Zoff in Wittenberg liegt letztlich auch an dem neuen Vergabemodell, das dort ausprobiert wurde. Innovativ sollte am "Wittenberger Modell" sein, dass nicht der billigste Anbieter den Zuschlag bekam, sondern derjenige, der die attraktivsten Verkehrsleistungen bietet. Den Preis für die auf acht Jahre ausgeschriebenen Beförderungsaufträge legte die Kommune von vornherein fest, indem sie die Fördersumme für den gesamten Zeitraum bereits in der Ausschreibung zementierte. Siegen sollte das Unternehmen, das unter den gegebenen Bedingungen die besten Angebotsideen zu bieten hatte. Zwist brach in Wittenberg spätestens dann aus, als es darum ging, die vier konkurrierenden Angebote zu bewerten. "Die große Herausforderung bei der Bewertung ist dabei, klare Kriterien zu definieren, ohne die Flexibilität der Angebote einzuschränken", sagt der Jurist Martin Schäfer, Fachbereichsleiter beim Verband deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). Genau da offenbarte sich aber die Krux des Wittenberger Modells: das Bewertungsraster geriet aus den Fugen, als die Busfirma Vetter aus dem Landkreis Bitterfeld ihr Angebot vorlegte. Ihre Busse sollten nicht nach einem starren Linienfahrplan die Dörfer abfahren, sondern jeden Fahrgast auf Anruf von früh morgens bis spät in der Nacht von zu Hause abholen und zum gewünschten Ziel fahren. "So ein Anrufangebot hätten wir uns nie träumen lassen", schwärmt Fachdienstleiter Holger Zubke noch heute von der Offerte.

Der umfassende Service des Anrufbusses war aber nicht im Raster der 13 Bewertungskriterien vorgesehen. Statt der maximal 120 Bewertungspunkte, die im besten Fall für einen Antrag vorgesehen waren, räumte die Vetter GmbH nur durch das Kriterium der Anrufbusse 737,70 Punkte ab. Da konnten die Mitbewerber einpacken. "Uns ist klar geworden, dass man nicht alle Unwägbarkeiten im Vorfeld absehen kann", sagt Harald Zubke vom Landkreis Wittenberg heute rückblickend. Der Verkehrsforscher Andreas Brenck vom Berliner IGES-Institut sieht das kritischer: "Das Schema weist handwerkliche Fehler auf."

Ausschreibungsverfahren können jedoch nicht nur unglücklich konzipiert sein. Ihre Komplexität ist zudem ein ganz eigenes Problem, das auf die mittelständischen Verkehrsunternehmen zurollt: Denn erfolgreich sind nur Angebote, die auf die komplizierten Anforderungsprofile maßgeschneidert wurden. Allein die Bewertungsrichtline für das Wittenberger Modell umfasst 81 Seiten. Wer sich darauf einlässt, braucht die Hilfe hochspezialisierter Experten. "Dieser Aufwand ist nötig, um den europäischen Vorgaben für Transparenz und Gleichbehandlung in den Verfahren gerecht zu werden", sagt Martin Schäfer vom VDV. Das Wittenberger Modell sei aber nicht komplizierter als andere Ausschreibungsverfahren. Trotzdem stelle der große administrative Aufwand viele Verkehrsbetriebe vor große Probleme. "Dort herrscht große Sorge und die ist berechtigt", sagt Schäfer. Viele Verkehrsunternehmen lagern ihre Bewerbung für Ausschreibungsverfahren deshalb gleich an spezialisierte Ingenieurbüros aus, die sie komplett durchführen.

Die Hilfe von Außen kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass kleine und mittlere Firmen - deren Kernkompetenz darin liegt, Menschen durch die Gegend zu fahren - beim Kampf um Aufträge strukturell schlechter aufgestellt sind als europaweit agierende Verkehrskonzerne. Diese können spezialisierte Juristen und Ingenieuren für diese Form der Akquise einsetzen und verkraften es, wenn ihnen in einer Region Europas ein Auftrag wegbricht, solange sie in anderen Regionen erfolgreich sind. Davon können Busunternehmer wie Heinz-Jürgen Röthe nur träumen: "Ich kann mein Unternehmen doch nicht auf einen Tieflader packen und in ein anderes Bundesland verfrachten", sagt Röthe. Es überrascht daher kaum, dass Lobbyvertreter vom Bundesverband Deutscher Omnibusunternehmer (bdo) angesichts der Liberalisierung Alarm schlagen: "Die Zukunft von 5.500 mittelständischen Unternehmen und 100.000 Arbeitsplätzen steht auf dem Spiel".

Auch Verkehrsforscher Andreas Brenck sieht schwere Zeiten auf die privaten mittelständischen Verkehrsanbieter zukommen, die so lange unter der schützenden Hand des Staates standen. "Es wird eine deutliche Marktbereinigung geben, denn die Kosten der Kleinen Anbieter weisen strukturelle Nachteile auf." Das heißt aber nicht, dass die Kleinen von den Großen in die Pleite getrieben werden. "Regionale Anbieter haben oft die Ortskenntnis und Flexibilität, die den Großen fehlt", sagt Brenck. Vieles spreche dafür, dass europaweit agierende Konzerne sich dieses Knowhow sichern, indem sie kleine Verkehrsanbieter aufkaufen - was nicht die schlechteste Lösung für regionale Anbieter ist. Allerdings weiß noch niemand, wieviel Marktkonzentration dem ÖPNV, der Branche und den Fahrgäste langfristig gut tut. "Das können wir nur mit Hilfe des Wettbewerbs nach und nach herausfinden", sagt Ökonom Andreas Brenck.

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