"Heiliger Krieg" im Cyberspace: "Kinder werden mit Comics gelockt"

Tausendfach ist die Zahl militant-islamistischer Webpages. Auch jungen deutschen Muslimen dienen sie als Einstieg in die Gedankenwelt des Djihad, warnt Terrorismus-Experte Berndt Georg Thamm.

Flog eine zeitlang durchs palästinensische Fernsehen: Die Djihad-Biene zur Mobilisierung der Kleinsten. Im Netz summt und brummt aber noch viel heftigere Propaganda Bild: scfreenshot: pmw.org.il

taz: Herr Thamm, seit den Anschlägen 2001 werden die Onlineaktivitäten 
von Islamisten genauestens beobachtet. Wie sah die Situation vor 9/11 aus?

Der "Heilige Krieg" wird nicht mehr nur bewaffnet geführt. Der ideologische Kampf findet vorrangig im Internet statt und dient der Radikalisierung von Muslimen. Mittlerweile gibt es über 6000 Internetseiten, in denen zum Kampf gegen die Ungläubigen aufgerufen wird. Im März 2008 hatte der Bayerische Verfassungsschutz eine Seite im Internet entdeckt, die unter anderem Fachwissen und Daten über Waffenkunde und Bombenbau an Interessierte weitergebe. Diese Form der Ausbildung von Terroristen stelle eine neue Dimension dar, so der bayerische Innenminister Joachim Herrmann. Im April 2008 rief der deutsche Konvertit Eric B. durch eine über das Internet verbreitete Videobotschaft zum Dschihad auf. Am 19. Juni 2008 gab es die erste Verurteilung wegen Werbens für eine terroristische Vereinigung im Internet. Der 37-Jährige Iraker wurde zu drei Jahren Haft verurteilt. Er hatte die Hassbotschaften der Anführer von Al Qaida in einem Chatroom verbreitet. Der Oberstaatsanwalt Peter Ernst betonte: "Das Internet ist ein notwendiger Bestandteil terroristischer Propaganda." Chatrooms gibt es inzwischen sogar für Frauen und Kinder. Für Frauen gibt es Tipps, wie sie ihre Kinder zu erziehen haben, damit aus ihnen gute Kämpfer für den Glauben werden. Dabei ist natürlich trotzdem alles in Rosa gehalten. Die Seiten für Kinder sehen auf den ersten Anschein auch meist harmlos aus. Bei tieferem Einstieg aber finden sich Bilder von Selbstmordanschlägen. Weitere Methoden um die Kinder zu beeinflussen sind die Ausschreibung von Wettbewerben, Spiele und Videos. Der ideologische Kampf wird also mittlerweile mit den werbeüblichen Mitteln geführt.



Berndt Georg Thamm: Natürlich haben Islamisten vor 9/11 das Internet
 genutzt, allerdings wurde das nicht so zur Kenntnis genommen, und sie 
waren nicht in der Quantität vertreten wie heute.



Es gibt heute also mehr fundamentalistische Homepages?



Ja. 1998, bei den schlimmen Anschlägen der al-Qaida in Ostafrika auf die
 US-Botschaften gab es lediglich zwölf Websites mit einem Djihadbezug.
 2001 waren es mehrere Dutzend, und 2005 wurden schon über 4.500 Websites 
gezählt...



...Zahlen vom Simon-Wiesenthal-Zentrum...



...im letzten Herbst zählte man dann über 5.800 Websites, und in diesem
 Jahr sind es schon weit über 6.000. Diese Zahlen zeigen, dass das Netz
 genutzt wurde und genutzt wird, um das Gedankengut des „Heiligen Krieges“- dem Djihad - zu globalisieren.



Wie haben sich die Inhalte geändert?



Diese sind den Erfordernissen des Djihad angepasst worden. Ursprünglich 
war das Internet mehr ein Instrument der offenen und verdeckten Kommunikation, um zielgruppenspezifische Botschaften zu verbreiten. Heute wird das Netz
 für die Informationssammlung, Radikalisierung der Gesinnung und für 
die Rekrutierung von Nachwuchs und deren Ausbildung, für die Öffentlichkeitsarbeit, Propaganda, Spendensammlung, Netzwerkarbeit, Mobilisierung und Planung von Operationen, so wie der psychologischen Kriegsführung benutzt. Nicht zu vergessen, dass das Netz die Möglichkeit bietet, sich als virtuelle Einheit darzustellen. Niemand muss sich mehr allein fühlen. Für die Kämpferwerbung gibt es inzwischen auch
 Websites, die auf Frauen, aber selbst auf Kinder 
und Jugendliche zugeschnitten sind.



Wie schauen solche Seiten aus?



Kinder werden beispielsweise mit Comics gelockt, welche die Botschaften 
des Hasses und des Märtyrertums verbreiten. Für Frauen gibt es 
Programme, die aus streng Gläubigen radikale und weiterführend gewaltbereite Islamistinnen machen wollen. Selbst die kleinste Gruppe wird über die Angebote 
Teil der virtuellen Umma, einer weltweiten Gemeinschaft der "Heiligen
 Krieger".



Finden sich hier ausdrückliche Mordaufforderungen?



Explizit in der Regel nicht. Deswegen müssen wir lernen,
 Formulierungen der anderen zu hinterfragen, uns in deren Gedankenwelt einfinden 
und die für unsere Bedürfnisse übersetzen.



Die Formulierungen der Anderen?



Unser djihad-terroristisches Gegenüber hat ein anderes Weltbild und 
damit auch eine andere Erklärung des Weltgeschehens, die viel religiöser 
ist. Wenn wir hier im Westen von Selbstmordattentätern sprechen, ist 
das nicht gleich zu setzen mit dem, was die Gegenseite, die 
militant-islamistische, als Märtyrer bezeichnet. Aus Sicht der
 Betroffenen der Terroranschläge, insbesondere der USA, war der 11. September eine Kriegserklärung. Aus Sicht der Anderen, die sie begangen haben, war 9/11 
eine Schlacht unter vielen. Die religiösen Djihad-Terroristen teilen bis heute ihre Feinde nicht nach politischen sondern nach religiösen Gesichtspunkten ein - in die Welt der Rechtgläubigen und der Ungläubigen. Und ihren „Heiligen Krieg“ kämpfen sie ohne Wenn und Aber gegen den internationalen Unglauben. Der islamistische Terrorismus ist heute virulenter denn je - auch online - und bedroht die Völkergemeinschaft, ob in West oder Ost, 
strategisch und langfristig.



Entgegen ihrer These wurde im Rahmen einer Studie von Radio Free Europe
 kürzlich festgestellt, dass es einzelne Homepages sind, von einigen 
wenigen dilettantisch betrieben, die mit brachialen Videos Aufsehen 
erregen. Also ist der sogenannte Cyberdjihad nicht eher auf dem Rückmarsch?



Wir dürfen jetzt eins nicht machen: die Potenz des Cyberdjihad mit der
 Potenz des realen Djihad-Terrorismus vergleichen. Das Netz stellt nur
 ein Mittel zum Zweck für engagierte Fundamentalisten weltweit dar. Es 
ist eine Waffe unter mehreren. Deutlich wird dies am Beispiel der al
-Qaida - die in der zweiten Hälfte der 90er Jahre ihren Höhepunkt hatte. 
Die tauchten mit Beginn der Operation „Enduring Freedom“ 2001/2002
 ab und danach virtuell wieder im Netz auf. Aber 
daneben gibt es wieder eine nun reanimierte Militärorganisation, die 
nicht mehr so kopfstark ist, aber noch hoch einflussreich - völlig
 unabhängig von der Nutzung des Netzes. Deswegen können wir nicht davon
 ausgehen, wenn ein Medium nicht mehr allzu stark genutzt wird, das damit 
auch der Niedergang der ganzen Bewegung einhergeht. Das wage ich zu 
bezweifeln. Es spricht sehr viel mehr dafür, dass wir es heute mit einer
 globalen Bewegung zu tun haben, wo sehr viele nach eigenem Gusto - es
 gibt ja kein Zentralkommando - arbeiten.



Wie schätzen Sie den Umfang der Homepages für den deutschsprachigen
 Raum ein?



Die Anzahl hat auch hier zugenommen. Die Terrorgruppen haben in Europa
 auch so etwas wie islamistische informelle Mitarbeiter, 
fundamentalistische IM. Von der Sache dem Djihad-Gedankengut 
verpflichtete junge Leute, die per Aktivitäten im Netz ihren Beitrag für
 das große finale Ziel, die Errichtung des Kalifats ihren Beitrag
 leisten, ohne selbst real zu kämpfen. Als bewaffneter Kampf, aber auch als ideologischer, also 
virtuell. Fanatiker beobachten in Deutschland, was passiert: Wie ist die 
Befindlichkeit der Bevölkerung, wie die Befindlichkeit der 
Parlamentarier, wie steht man Einsätzen in der Welt des Islam gegenüber. Es sind ernst zu nehmende
 Fundamentalisten, die nicht ihr eigenes Blut vergießen. Das überlassen sie anderen. Aber sie predigen die Teilnahme am Djihad, bis hin zum Märtyrertod, vornehmlich im Netz. Al-Qaida-Gründer
 Osama bin Laden hat schon vor einem Jahrzehnt darauf hingewiesen, dass 
der "Heilige Krieg gegen die Ungläubigen" in mehreren Varianten geführt wird - bewaffnet, aber auch ideologisch, also virtuell.




Mitte Juli hat die deutschsprachige Seite "Globale Islamische 
Medienfront" (GIMF) ihr Onlineportal wegen zu geringer Nachfrage 
eingestellt...

...dennoch muss ich vor monokausalen Schlussfolgerungen warnen. Das Netz ist sehr wichtig, immens wichtig, was die Globalisierung des Djihad mit all
 seinen Seitenzweigen und seinen Nebenfeldern betrifft - als ein virtuelles Mittel 
zum Zweck. Von schlecht gestalteten Seiten mit geringen Zugriffszahlen darf man 
sich nicht täuschen lassen. Der „Heilige Krieg“ wird nach wie vor ganz konkret geführt. Wir haben sehr lange den Schwerpunkt unseres Interesses 
auf den bewaffneten Kampf gelegt, weil der natürlich auch in den Medien
 viel präsenter war und ist - Selbstmordanschläge, insbesondere schlimme Anschläge gegen zivile Ziele. Über lange Zeit ist der ideologische Kampf
 unterschätzt worden, aber auch ihn wird es noch über viele weitere Jahre 
geben – quantitativ und qualitativ mit unterschiedlichen Schwerpunkten.



Wie wichtig sind fundamentalistische Seiten für die deutsche Muslime?



Junge, deutsche Muslime haben die Möglichkeit, sich im Crashkurs in eine 
fremde Welt einzufinden. Es ist der Einstieg in die Gedankenwelt des „Heiligen Krieges“, auf dem man sich vorbereiten und an dem man auch teilnehmen kann.



Also können Muslime, die nicht dem islamistischem Spektrum angehören,
 durch einschlägige Seiten einen ideologischen Ruck erhalten?



Da müsste schon einiges zusammen kommen; Erlebnisse, die tiefgreifend 
sind. Und es muss schon vorher eine Art Bereitschaft von Gewalt vorhanden
 sein. Aber einen Ruck kann es schon geben durch das Internet. Es ist doch eine Art virtueller Reiseführer durch die Welt des Djihad.



Was bedeutet das für die Sicherheitslage in Deutschland?



Warten auf das „deadman walking“ in deutschen Städten. Warten auf den „Big Bang“

INTERVIEW: CIGDEM AKYOL

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