Vor Berufungsurteil über Kölner "Komaschläger": Der Junge, der mit Fäusten denkt

Trotz Empörung über das angeblich zu milde Urteil dürfte auch das Landgericht zu keinem ganz anderen Ergebnis kommen. Jugendstrafrecht sei eben "kein Kampfrecht", sagt Kriminologe Walter.

KÖLN taz Die Entscheidung ist nicht einfach, der öffentliche Erwartungsdruck hoch. In der Berufungsverhandlung gegen den als Kölner "Komaschläger" bekannt gewordenen Erdinc S. wird an diesem Freitag das Urteil gesprochen. In einem aufsehenerregenden Prozess war der Jugendliche, der an Weiberfastnacht 2007 einen Mann zum Invaliden geschlagen hatte, in der ersten Instanz zwar wegen schwerer Körperverletzung verurteilt worden – bekam jedoch zunächst keine Strafe. Nun muss die 4. Große Strafkammer des Landgerichts Köln neu beschließen.

Das vermeintlich milde Urteil des Amtsgerichts vom Mai hatte auch über die Stadtgrenzen Kölns hinaus für Empörung gesorgt. Der verantwortliche Richter Hans-Werner Riehe musste wüste Beschimpfungen einstecken, bekam Drohbriefe und sah sich geradezu einer Hetzkampagne ausgesetzt. Tagelang wetterten die Boulevardblätter gegen den "Richter Butterweich" und "Kuschel-Juristen". Der Ausgang des Prozesses wirke "wie ein Sprengsatz gegen die Fundamente unseres Zusammenlebens", kommentierte Kölns größte Tageszeitung, der "Kölner Stadt-Anzeiger".

Weil der Angeklagte zur Tatzeit noch minderjährig war, findet auch diesmal die auf sechs Prozesstage angesetzte Landgerichtsverhandlung vollständig hinter verschlossenen Türen statt. In der ersten Instanz hatte Jugendrichter Riehe zwar die Schuld des 18-jährigen Deutschen türkischer Herkunft festgestellt, den Gerichtssaal hatte der junge Mann trotzdem mit einem Strafvorbehalt auf freiem Fuß verlassen können. Die Staatsanwaltschaft legte umgehend Berufung ein, da das Ergebnis „weit ab ist von dem, was wir für richtig halten“. Die Anklagebehörde hatte für Erdinc S. dreieinhalb Jahre Haft gefordert.

Die Tat, um die es geht, geschah am Abend des 15. Februar 2007 im Kölner Stadtteil Ostheim. Zusammen mit den vier Kindern seiner damaligen Lebensgefährtin befand sich der Erwerbslose Waldemar W. auf dem Heimweg von einer Karnevalsfeier, als er an einer Telefonzelle auf Erdinc S. und seine Kumpels traf. Als einer von ihnen dem nicht mehr ganz nüchternen früheren Ford-Arbeiter den Zutritt verwehrte, kam es zu einem heftigen Wortwechsel. Dann schlug Erdinc S. plötzlich zu. Die Wucht seines Schlages ließ Waldemar W. gegen die Glasscheibe der Zelle stürzen. Dabei verletzte er sich so schwer, dass er wochenlang im Koma lag. Die Ärzte attestierten ein "Schädelhirntrauma mit Gehirneinblutungen".

Eine grausame Tragödie: Gerade erst schien sich Waldemar W. stabilisiert zu haben. Der heroinabhängige Mittvierziger nahm an einem Methadonprogramm teil, lebte in einer festen Beziehung und stand kurz davor, einen Ein-Euro-Job beim Kölner Grünflächenamt anzutreten. Davon geblieben ist ihm nur ein Scherbenhaufen. Seit der Tat, an die er sich nicht mehr erinnern kann, ist Waldemar W. zu sechzig Prozent schwer behindert. In den medizinischen Gutachten ist von "dauerhaften hirnorganischen Schäden“ die Rede. Er ist arbeitsunfähig und seine Freundin hat ihn verlassen. Von der "Katastrophe eines zerstörten Lebens", spricht sein Anwalt Bernd Neunzig.

Die schweren Folgen, so befand Richter Riehe in seinem Urteil, könnten allerdings nicht dem Täter zugerechnet werden. Denn er habe sie weder gewollt noch abgesehen. Das Amtsgericht ging deshalb in diesem Punkt nur von Fahrlässigkeit aus. Aus der Untersuchungshaft schickte Erdinc S. einen Brief an Waldemar W., in dem er seine Tat bedauerte. Als sich die beiden im Prozess gegenüber saßen, brachte der Jugendliche eine persönliche Entschuldigung jedoch nicht über die Lippen.

Erdinc S. ist alles andere als ein unbeschriebenes Blatt. Seit er zum näheren Umfeld der berüchtigten Jugendgang T.N.G.O.G. - die Initialen stehen wahlweise für "The New Generation of Gernsheimer" oder "The New Generation Ostheim Gangsters" – gehörte, wird er bei der Kölner Polizei per "Festakte" als so genannter "Intensivtäter" geführt. Sein Verteidiger Andreas Bartholomé zählt zehn Fälle auf, in denen zuvor bereits gegen den türkischstämmigen Jugendlichen ermittelt wurde. Die Palette, der ihm vorgeworfenen Verstöße, ist bunt. Sie reicht von Beleidigung über Diebstahl, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch, Körperverletzung bis hin zu einem Verstoß gegen das Waffengesetz. "Aber neun der zehn Verfahren wurden eingestellt", betont Bartholomé, der auch die Angeklagte im soeben zu Ende gegangenen Siegener Babyleichen-Prozess vertreten hat. Das von Bartholomé erwähnte nichteingestellte Verfahren endete nur eine Woche vor dem Angriff auf Waldemar W. mit einem Schuldspruch wegen gemeinschaftlich begangenen Raubes: Zusammen mit einem Kumpel hatte Erdinc S. zwei anderen Jugendliche gewaltsam ihre Handys "abgezogen". Eine Strafe gegen ihn verhängte das Gericht auch in diesem Fall nicht.

Dass das Landgericht diesmal zu einem gänzlich anderen Ergebnis kommt als die so arg gescholtene Vorinstanz ist noch nicht ausgemacht. Denn ein Skandal sei das erste Urteil keineswegs gewesen, ist Professor Michael Walter überzeugt. "Die Empörung wäre bei einer besseren Information über die rechtlichen Grundlagen und die praktischen Konsequenzen der jugendrichterlichen Entscheidung von damals nicht entstanden", sagt der Direktor des Instituts für Kriminologie an der Universität Köln der taz. "Im Gegensatz zum allgemeinen Strafrecht, das die Schuldvergeltung in den Mittelpunkt rückt, soll das Jugendstrafrecht die soziale Integration fördern und dadurch präventiv wirken."

Das Jugend- unterscheide sich darin gravierend vom Erwachsenenstrafrecht. Denn es solle in erster Linie erzieherischen Charakter haben. Daher ziele es darauf ab, Entwicklungschancen zu eröffnen. Es sei "kein Kampfrecht, das den Straftäter möglichst lange von der Gesellschaft fernhalten will", sagt Walter. "Im Gegensatz zum allgemeinen Strafrecht, das die Schuldvergeltung in den Mittelpunkt rückt, soll das Jugendstrafrecht die soziale Integration fördern und dadurch präventiv wirken." So werden Haftstrafen für Jugendliche auch nur bei der Feststellung "schädlicher Neigungen" oder einer besonderen Schwere der Schuld verhängt.

Entgegen dem öffentlichen Eindruck habe Riehe, der als eín ausgewiesener Experte des Jugendstrafrechts gilt, den Täter keineswegs einfach straffrei ausgehen lassen, erklärt der Kriminologe Walter. Vielmehr habe sich der erfahrene Jurist eine Besonderheit des Jugendstrafrechts zunutze gemacht: Laut Paragraph 27 des Jugendgerichtsgesetzes ist es möglich, die Entscheidung über eine Strafe aufzuschieben. Ein halbes Jahr sollte beobachtet werden, wie sich Erdinc S. entwickelt und ob eine Jugendstrafe wegen "schädlicher Neigungen" erforderlich ist. Zu den Auflagen gehörte, dass er sich in dieser Zeit straffrei führt und einer psychotherapeutischen Untersuchung unterzieht. Außerdem müsse er ein Anti-Aggressionstraining absolvieren.

Das allerdings scheint mehr als nötig: Mittlerweile sind schon wieder zwei Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung hinzugekommen. So geriet Erdinc S. bereits im Juni wieder in eine Schlägerei. Im August soll er dann am Deutzer Bahnhof ein homosexuelles Paar attackiert haben. "Ihr schwulen Säue, fickt euch alle in den Arsch!", rief er laut Akten den beiden Männern zu. Dann flogen die Fäuste. Wer zuerst zuschlug, ist auch hier zwischen den beiden Parteien strittig. Inzwischen sitzt Erdinc S. wieder in U-Haft. Dass er seine Aggressionen nicht unter Kontrolle hat, räumt auch Verteidiger Bartholomé ein: "Das ist letztlich etwas, was er nicht beherrscht." Trotzdem hofft er auf eine Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils: "Es war eine komplizierte Entscheidung, aber sie war richtig."

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