Fraktionschef beschimpft Web-Aktivisten: Grüne besänftigen wütende Blogger

Bremens Grünen-Fraktionschef hat mit einem provokanten Plädoyer für Internetsperren Blogger gegen sich aufgebracht. Die Partei fürchtet um netzaffine Wähler - und distanziert sich.

Vorerst keine Blumen für den Bremer Fraktionschef: der Grünen-Vorstand. Bild: dpa

BERLIN taz | Der Gast-Kommentar des Bremer Grünen-Fraktionschefs Matthias Güldner in der Tageszeitung Welt am Montag war kurz und seine These zunächst nicht sonderlich spektakulär: In der Auseinandersetzung über die geplante Blockade kinderpornografischer Internetseiten gehe es nicht nur um die Eindämmung pädophiler Inhalte, sondern um die „Definitionsmacht in Zeiten der Virtualisierung der Welt“.

Internetsperren seien „kein Allheilmittel“, aber einer von vielen Bausteinen, „um eine größtmögliche Wirkung“ gegen Kinderpornografie zu erzielen, schrieb Güldner, der einst für die Kinderschutzorganisation "Save the Children" arbeitete. Er warnte seine Partei davor, „mehr auf den Trend“ Internet zu setzen „als auf die Bekämpfung realer Menschenrechtsverletzungen“.

Bis hierhin war der Kommentar nur eine Abweichung von der Mehrheitsmeinung seiner Partei sechs Wochen nach dem Beschluss der Sperren im Bundestag. Bei der Abstimmung im Juni votierten 33 Grünen-Abgeordnete gemäß der Parteilinie gegen den Gesetzentwurf der großen Koalition „zur Bekämpfung der Kinderpornographie in Kommunikationsnetzen“, 15 Parlamentarier haderten allerdings mit der Ablehnung des Gesetzes - und enthielten sich.

Doch dann verwendete der Bremer Grüne noch ein paar Sätze, die deutlich machen, dass sich bei ihm eine Menge Wut über die Blogger-Szene aufgestaut hat, die die Web-Blockaden bekämpft und Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen für ihr Gesetz als "Zensursula" verspottet. Internetaktivisten kämpften „mit hoch effektiven Mitteln für die Rechtsfreiheit ihres Raumes“, behauptet Güldner. „Wer sich in ihre Scheinwelt einmischen will, wird mit Massenpetitionen per Mausklick weggebissen. Wer Ego-Shooter für Unterhaltung, Facebook für reales Leben, wer Twitter für reale Politik hält, scheint davon auszugehen, dass Gewalt keine Opfer in der Realwelt fordert.“ Höhepunkt der Polemik des promovierten Politikwissenschaftlers gegen die Netzaktivisten: „Da haben sich einige wohl das Hirn herausgetwittert.“

Die Reaktionen kamen prompt: Auf der gedissten Kurznachrichten-Plattform Twitter war die Häme groß. Güldner wurde mit der bei Bloggern schlimmstmöglichen Beleidigung „Internet-Ausdrucker“ versehen. Einige Nutzer kommentierten mäßig originell: „Habe mir gerade das Gehirn herausgetwittert. Bitte helft mir“. Die politische Konkurrenz ließ es sich nicht nehmen, auf den Querschlag hinzuweisen: „Dreht Güldner jetzt durch???“, zwitscherte Malte Engelmann, Landeschef der Jungen Union Bremen. Björn Böhning, Berliner SPD-Anwärter auf ein Bundestagsdirektmandat, twitterte süffisant im norddeutschen Slang: „Was das nicht alles so gibt“.

Auch in Blogs und bei Welt Online ging es rund. Auf der Seite Netzpolitik.org, einem der wichtigsten Sprachrohre der Internet-Community Deutschlands, wurde der Bremer Bürgerschaftsabgeordnete zum „Politiker des Tages“ ernannt. Begründung: Er habe „einige hochspannende Stilblüten zur Zensursula-Debatte beigetragen“ und helfe prominent mit, „das Netzpolitik-Profil seiner Partei zu verwässern“. Auf Welt Online, wo der Text schon seit Sonntagmittag zu lesen ist, tobten sich bis Dienstagmittag mehr als 300 Nutzer mit Leserkommentaren zu Güldners Beitrag aus. Die Anzahl der Anmerkungen von Lesern sei im Vergleich zu anderen Artikeln „deutlich im oberen Drittel“, sagt der Leiter von Welt Debatte, Holger Melas. Angesichts des Sommerlochs sei das „recht viel“.

So weit, so vorhersehbar. Doch nicht nur die Internet-Aktivisten schäumen vor Wut, auch Güldners eigene Partei. Am Montag distanzierte sich der Bundesvorstand der Grünen von den Auslassungen seines Bremer Fraktionschefs: Güldners Beitrag widerspreche „grüner Programmlage“ und schlage „gegenüber denjenigen, die sich für ein freies Internet engagieren, einen aus unserer Sicht nicht akzeptablen Ton an“. Vorstandsmitglied Malte Spitz, der scherzt, selbst „wohl einer von denen“ zu sein, „die sich laut Herrn Güldner das Hirn herausgetwittert haben“, rechtfertigt sein Vorgehen: „Wir mussten reagieren und zeigen: Wir nehmen den Fall ernst.“

Das tat auch die Grüne Jugend. Ihr Bundesvorstand antwortete in einem Offenen Brief mit der Überschrift „Die Ignoranz des Matthias Güldner“: Dessen „realitätsferne Polemik“ sei „diffamierend“ und „ignorant“. „Dass prominente VertreterInnen unserer Partei sich in so verkürzter und populistischer Art und Weise gegen die eigenen Parteitagsbeschlüsse stellen, wie du das mit deinem Kommentar getan hast, macht es uns in den nächsten Monaten nicht leichter.“

An der Bremer Parteibasis brodelt es ebenfalls: Ein Grünen-Mitglied, das im Vorstand des Chaos Computer Clubs der Hansestadt sitzt, kündigte in einem Offenen Brief seinen Parteiaustritt an: „Ich kann nicht Mitglied in einem Landesverband sein, für den du sprichst“. Er habe bereits bei der Europawahl die Piratenpartei gewählt, schrieb der enttäuschte Ex-Parteifreund weiter.

Besonders Sätze wie dieser letzte dürften die Grünen-Strategen Wochen vor der Bundestagswahl im Mark treffen. Die schnellen Reaktionen der Parteiführung offenbaren auch die Nervosität beim Thema Internetpolitik. Die Furcht, die wachsende Gruppe junger netzaffiner Wähler langfristig an die Piratenpartei zu verlieren, ist groß, auch wenn das kein führender Grüner öffentlich zugibt. „Natürlich gibt es einen Konkurrenzkampf unter den Parteien um die netzaffine Wählerschicht“, räumt Vorstandsmitglied Malte Spitz ein, fügt aber schnell hinzu „genauso wie um alle anderen Wählergruppen auch“.

Grüne-Jugend-Sprecher Max Löffler sagt, dass es bei seiner Reaktion natürlich auch darum gegangen sei, eine Kampagne von Piratenpartei-Unterstützern abzuwenden: „Die Piratenpartei springt auf so etwas an. So etwas macht dann schnell im Internet die Runde. Und wenn die Lawine losgetreten ist, ist es schwer, sie zu stoppen.“

Güldner war für eine Stellungnahme am Dienstag nicht zu erreichen. Ein Bremer Fraktionssprecher sagte, er kenne den Kommentar aus der Welt gar nicht.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.