Kommentar Fallende Löhne: Heimliche Eliten

In Deutschland geht es immer darum, was andere nicht haben sollen - statt Forderungen für sich selbst zu erheben.

Ein eigenartiges Phänomen ist in Deutschland zu beobachten. Es trifft fast jeden und löst dennoch keinen Unmut aus: Die Reallöhne sinken seit Jahren - und zwar nicht nur in der Krise. Selbst im vergangenen Boom sind sie noch gefallen. Profitiert haben damals nur die Unternehmer und Kapitalbesitzer. Die Beschäftigten hingegen hatten weniger und schwiegen dazu.

Sie nämlich ziehen es vor, sich über die Spanienfahrten von Ulla Schmidt aufzuregen. Dabei verliert jeder einzelne dieser Empörten in der Summe weit mehr, weil sein Reallohn kontinuierlich fällt. Doch geflissentlich übersehen die Bürger ihre eigentlichen Verluste. Offenbar bemerken die Deutschen gar nicht, dass sie gerade sozialpolitische Geschichte schreiben. DAS GAB ES NOCH NIE! Dieser Standard-Ausruf für den historischen Superlativ trifft tatsächlich zu, wenn es gilt, die Tendenz der fallenden Reallöhne zu beschreiben. Zwei Aspekte sind besonders verwirrend.

Erstens: Die Reallöhne geben nicht nur bei den Geringqualifizierten nach, sondern auch bei den Fachkräften, was in den ökonomischen Standardannahmen überhaupt nicht eingeplant ist. Denn die Theorie sieht vor, dass nach objektiver Leistung honoriert wird - im Wirtschaftsdeutsch auch gern "Produktivität" genannt. Wer wenig kann, erhält auch wenig; indessen die Fachkräfte für ihr Wissen ordentlich honoriert werden. Tatsächlich jedoch fallen die Reallöhne in allen Einkommensgruppen - auch die Akademiker sind nicht gefeit. Einzige Ausnahme sind die Spitzenmanager, was vielleicht die obsessive Wut erklärt, mit der die Top-Einkommen beäugt werden. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Es gibt keinen Grund, warum DAX-Vorstände aktuell im Durchschnitt 2,1 Millionen Euro jährlich verdienen sollten. Trotzdem fällt auf, dass sich die öffentliche Diskussion nur darum dreht, was Manager nicht bekommen sollten. Nie wird mit gleicher Leidenschaft diskutiert, wie stark die Löhne steigen müssten. Die Parallelität zur Dienstwagenaffäre von Ulla Schmidt ist kaum zu übersehen: In Deutschland geht es immer darum, was andere nicht haben sollen - statt Forderungen für sich selbst zu erheben.

Zweitens: Die deutsche Entwicklung ist einmalig in Europa. Nirgendwo sonst fallen die Reallöhne in dieser Geschwindigkeit. Stattdessen sind sie in den anderen Industriestaaten oft kräftig gestiegen, sodass auch die Arbeitnehmer vom globalen Boom profitiert haben. Die "Globalisierung", immer gern als Argument bemüht, kann demnach nicht schuld sein.

Was also erklärt den deutschen Sonderweg? An Thesen fehlt es nicht, aber die meisten tragen nicht weit, wie auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) feststellt, von dem die neueste Lohn-Studie stammt. Um ein paar der obsoleten Erklärungsversuche zu nennen: Denn Steuern und Sozialabgaben sind nicht dafür verantwortlich, dass die Reallöhne fallen. Denn die Staatsquote ist in den vergangenen Jahren kaum gestiegen.

Der zunehmende "Individualismus" taugt ebenfalls nicht als Erklärung. Zwar ist wahr, dass viele Beschäftigten keine Lust mehr haben, sich einer Gewerkschaft anzuschließen. Aber dieser Trend ist europaweit zu beobachten. Überall sinkt der Organisationsgrad, und trotzdem hat die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer andernorts nicht so stark gelitten.

Auch die Minijobs sind wohl nicht daran schuld, dass das gesamte deutsche Lohngefüge wankt. Die geringfügig Beschäftigten haben zwar enorm zugenommen - trotzdem entfallen auf sie gerade einmal vier Prozent des Arbeitsvolumens.

Ähnlich partiell dürfte die Leiharbeit wirken. Es ist zwar ein Skandal, dass gleiche Arbeit nicht immer gleich bezahlt wird und die Leiharbeiter oft gegenüber der Stammbelegschaft benachteiligt sind. Aber selbst zu Boomzeiten wurden nur maximal 800.000 Leiharbeiter gezählt - das waren ganze drei Prozent der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten.

Und schließlich zieht die beliebteste Erklärung der Neoliberalen nicht: Dem Volk wird ja immer wieder gern erklärt, dass die Löhne sinken müssten, um unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit zu retten. Aber an der jetzigen Entwicklung ist ja so besonders irritierend, dass die Gewinne der Unternehmen explodieren, während die Beschäftigten Bescheidenheit üben. 2008 lag die Lohnquote, also der Anteil der Gehälter am Volkseinkommen, nur noch bei 61 Prozent. Das ist beispiellos niedrig in der deutschen Geschichte. Unübersehbar ist noch sehr viel Raum vorhanden, um höhere Löhne zu fordern. Sie würden nicht zwingend die Preise der Exportwaren erhöhen - sondern nur den Profit der Kapitalbesitzer schmälern.

Die fallenden Reallöhne sind also ökonomisch nicht zu erklären. Stattdessen muss man wohl akzeptieren, dass die Arbeitnehmer verlieren wollen; offenbar fühlen sie sich durch die eigene Bescheidenheit aufgewertet.

Zu diesem rätselhaften Phänomen gehört auch, dass die CDU inzwischen die eigentliche Arbeiterpartei in Deutschland ist und die meisten Arbeitnehmer unter ihren Wählern zählt. Dabei kommen Arbeitnehmerinteressen im Unionsprogramm kaum vor - aber genau das scheint den Sog ausmachen. Wer die CDU wählt, kann sich als Selbständiger oder gar Unternehmer fühlen. Und danach scheinen sich in Deutschland sehr viele Beschäftigte zu sehnen.

Wer sich aber insgeheim als soziale Elite empfindet, der kann seinen Arbeitgeber nicht mit harten Lohnforderungen konfrontieren. In dieser Auseinandersetzung würde er auf die Tatsache zurückgeworfen, dass er nur ein abhängig Beschäftigter ist. Pathetisch gesagt: Die meisten Deutschen haben das falsche Klassenbewusstsein.

Diese etwas fatale Selbsteinschätzung ließe sich aber überwinden - ironischerweise, indem man von den deutschen Managern lernt. Deren Gehälter legten erst so krass zu, nachdem sie begonnen hatten, sich mit ihren US-Kollegen zu vergleichen. Dieser Blick über die Grenzen würde auch deutschen Arbeitnehmern weiterhelfen. Es muss ja nicht so bleiben, dass die Reallöhne nur im Ausland steigen.

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Der Kapitalismus fasziniert Ulrike schon seit der Schulzeit, als sie kurz vor dem Abitur in Gemeinschaftskunde mit dem Streit zwischen Angebots- und Nachfragetheorie konfrontiert wurde. Der weitere Weg wirkt nur von außen zufällig: Zunächst machte Ulrike eine Banklehre, absolvierte dann die Henri-Nannen-Schule für Journalismus, um anschließend an der FU Berlin Geschichte und Philosophie zu studieren. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung in Hamburg und Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager (Grüne). Seit 2000 ist sie bei der taz und schreibt nebenher Bücher. Ihr neuester Bestseller heißt: "Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind - und wie wir in Zukunft leben werden". Von ihr stammen auch die Bestseller „Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ (Piper 2012), „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Piper 2015), "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie - oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können" (Piper 2018) sowie "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind" (Piper 2022).

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