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20 Jahre Deutsche EinheitDas Ostler-Gen

Vor zwanzig Jahren erfüllten wir aus der DDR alle Kriterien der Unterschicht. Thilo Sarrazin hätte wahrscheinlich ein Buch über das spezifische Ostler-Gen geschrieben.

Was übrig blieb vom Auto der DDR. Bild: ap

Vor zwanzig Jahren, bei der ersten und letzten freien Wahl in der DDR - die sich gleichwohl schon fest in altbundesdeutscher Hand befand - machte die CDU Werbung mit dem Slogan "Freiheit statt Sozialismus". Sozialismus meint seit je eine auf menschlicher Gegenseitigkeit, auf Solidarität statt auf Gewinnstreben orientierte Gesellschaft. Was für ein großer Gedanke! Was für eine große Ernüchterung! Denn eine solche Gesellschaft war soeben jämmerlich gescheitert, und man solle - um des Himmels, um der Freiheit willen - es nicht noch einmal versuchen. Das war die Botschaft.

Pünktlich zum 20. Jahrestag der deutschen Einheit entdeckt das deutsche Sachbuch nun im Chor die Solidarität wieder. Wir dürfen wählen zwischen "Der Sinn des Gebens", "Wir! Warum Ichlinge keine Zukunft mehr haben", "Wir und was uns zu Menschen macht" und der "Kunst, kein Egoist zu sein." Selbstlose, gebende Menschen seien glücklicher als andere und lebten auch noch länger. Die Selbstlosigkeit sei überraschenderweise in uns angelegt, was aber erst eine neue Sicht auf die Ursprünge des Menschen erkennbar werden lässt. Widerspruch! Doch verschieben wir den noch einen Augenblick zugunsten der Frage: Was ist hier eigentlich passiert?

Natürlich, vor zwanzig Jahren trug die FDP noch das Gesicht des Außenministers Hans-Dietrich Genscher oder das des Grafen Lambsdorff; damals übersetzte man "liberal" noch nicht zwangsläufig mit: "Mehr brutto vom netto!" Vor zwanzig Jahren sprach auch noch keiner von der Unterschicht, dem Hauptwort nicht nur der letzten Sarrazin-Wochen.

Wie langsam wir uns an dieses Wort gewöhnen mussten! Die es zuerst in den Mund nahmen, hatten noch fast ein schlechtes Gewissen. Heute dagegen spricht man es mit einer Genugtuung aus, die von Selbstgerechtigkeit nicht zu unterscheiden ist. Aber was für ein Glück für uns Ostler! Wäre die deutsche Einheit zwanzig Jahre später gekommen, wir wären sofort identifiziert worden als das, was wir waren: die kollektive Unterschicht! Fast siebzehn Millionen ohne Kapital, mit Einkommen, die auch 1:1 gerechnet oft gerade heutigen Hartz-IV-Sätzen glichen. Und die meisten waren ohnehin bald arbeitslos. (Kollateralschaden beim Systemwechsel.) Wer übersetzen wollte, wie das spezifische Mehrheits-Outfit Ost damals auf avancierte Geschmacksnerven West wirkte, dürfte wohl von Hartz-IV-Look sprechen.

Wahrscheinlich hätte Thilo Sarrazin damals ein Buch über das spezifische Ost-Gen geschrieben. Sarrazin kommt übrigens aus Gera! Zur geistigen Ober- oder Mittelschicht gehört er wohl nicht, sonst hätte er bemerken müssen: Unterschichten reproduzieren sich nicht genetisch, Unterschichten werden gemacht. Nehmen wir das 20. Jahr der deutschen Einheit als Anlass, darüber nachzudenken: Wie entstehen Unterschichten?

Die Autorin

Kerstin Decker ist freie Autorin und lebt in Berlin. Zusammen mit Gunnar Decker schrieb sie das Buch "Über die unentwickelte Kunst, ungeteilt zu erben. Eine Deutschstunde", erschienen 2009 im Dietz Verlag.

Hässlichkeit ist nie natürlich

Wir, die Unterschicht, waren das vor zwanzig Jahren natürlich nur für West-Augen. Unter den Bedingungen der DDR waren wir keine. Und die Arbeiter hatten das größte Ego. Auch machte das relative Nichtshaben nicht einmal unglücklich.

Die meisten Ostler haben wohl bald typische Unterschichtserfahrungen gemacht. Ihr Kern ist die Wahrnehmung: Ich bin hier vollkommen überflüssig! Für uns war sie neu. Wir sind vorher gar nicht auf die Idee gekommen, uns selbst für überflüssig zu halten, aber auch nicht auf den Gedanken, andere für überflüssig zu halten. Der Unterschicht bleibt auf die Dauer gar nichts übrig, als sich unterschichtsgerecht zu benehmen. Wer hielte die unzähligen Bewerbungen und ebenso unzähligen Absagen aus, die abschätzigen Blicke, die einen auf den Fluren der Ämter treffen, ja diese ganze staatlich verwaltete Existenz? Mit sensibleren Nervensystemen kommt man da nicht durch. Stumpfheit ist Rettung.

Selbst Hässlichkeit liegt nicht in den Genen, sondern ist ein gesellschaftliches Produkt. In dem Maße, wie Menschen zur Unterschicht werden, beginnen sie auch so auszusehen, sich so zu benehmen - was unserem Mitgefühl harte Grenzen setzt. Ein gesellschaftlicher Schein entsteht: der Eindruck, die wären selber schuld. Und statt Mitleid empfinden wir zunehmend Ärger, dass es solche wie "diese da" überhaupt gibt. So vollzieht sich die Entsolidarisierung einer Gesellschaft.

Generation Schopenhauer

Am Montag, den 21. September, gedachten wir Arthur Schopenhauers. Der wohlhabende Kaufmannssohn aus Danzig war im Unterschied zu Thilo Sarrazin leidempfindlich. Seine finanzökonomische Grundeinsicht lautete: Das Leben ist ein Geschäft, das die Kosten nicht deckt. Anders formuliert: Wer das Leiden, die Ausweglosigkeit der Welt ungefiltert wahrnähme, verlöre sofort jeden Lebensmut. Unser vielbeschäftigtes Sein ist normalerweise ein guter Schutz davor; Depressive hingegen haben oft keine Möglichkeit, dieser Wahrnehmung auszuweichen. Das ist ihr Wettbewerbsnachteil. Schopenhauer artikulierte das Weltbild der Depression.

Wenn von Unterschicht die Rede ist, fühlt etwas in uns sich noch immer mitgemeint. Unterschichtler sind miserable Eltern, sonst gehörten sie schließlich nicht mehr zur Unterschicht? Was für eine seelische Grausamkeit. Manchmal denke ich, wir Mauergeborenen Ost sind die Generation Schopenhauer. Wir haben die "solidarische" Gesellschaft zu nah erlebt, um eine Neuauflage zu wünschen. Aber auch zu tief, um übergroßen Reichtum und Armut irgendwie normal finden zu können.

Leistung muss sich wieder lohnen? Doch man braucht - das haben wir erfahren - nicht einmal wohlhabender zu sein als der Nachbar, um die eigene Leistung schätzen zu können. Dass wir solidarische Wesen sind, ist keine neue Erkenntnis. Die beiden Grundzüge des Menschen, Egoität und Solidarität, prägen sich im Lauf der Menschheitsentwicklung immer weiter aus. Und die Art und Weise, den Konflikt zwischen beiden Kräften auszutragen, gibt jeder Kulturepoche ihr unverwechselbares Gesicht. Das wusste schon das 19. Jahrhundert. Wie sehen wir aus?

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11 Kommentare

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  • F
    Frithjof

    Ein möglivherweise kollektiv verschwiegenes Empfinden als manche qualitative Sozialstudie. Danke für den Mut dazu!

  • M
    Manouch

    "Auch machte das relative Nichtshaben nicht einmal unglücklich".

     

    als wenn es in der ddr keine eliten gegeben hätte (nein, nicht nur parteibonzen. sondern auch viele schriftstellerInnen und andere vorzeige-subjekte, ganz abgesehen von sonstigen leuten "mit guten verbindungen").

     

    ostalgie pur, der text.

     

    "unterschicht" habe ich zum ersten mal aus dem munde des allerorten so verehrten harald schmidt gehört ("unterschichtenfernsehen").

     

    ich weigere mich bis heute, dieses unwort in den mund zu nehmen. wer sich damit identifiziert, hat selbst schuld.

  • MA
    Metalepsis ad Infinitum

    Vielen Dank für diesen sehr schön geschriebenen Artikel!

  • P
    Patrick

    Das ist ein sehr schöner Artikel und doch wieder so einseitig. Ich stamme aus dem "Osten" und habe den den Solidaritätsgedanken so nicht erlebt. Die Solidarität hat sich nur innerhalb verschiedener Gruppen abgespielt, die sich untereinander wirtschaftlich unterstützt haben. Man benötigte Baumaterial, Autoersatzteile,Schallplatten oder Ähnliches. Eine wirkliche menschliche Solidarität habe ich nach der Wende öfter getroffen. Ich vermisse in Ihrem Artikel den Aufruf zur Eigeninitiative. Warum anstatt 10€ für das Rote Kreuz zu spenden, nicht lieber mal der Nachbarin mit Ihren 4 Kindern, der der Mann vor 2 Jahren weggelaufen ist, zu helfen und zu unterstützen. Solidarität ist kein Staatsgeschäft und sollte immer bei uns anfangen.

     

    Patrick Ehrke

  • A
    august13

    Nach der Überschrift und den ersten Zeilen wollte ich diesen Artikel abstempeln als "Wieder einmal substanzlose, ideologisch bedingte Hetze in der taz". Als ich dann weiterlas, dachte ich mir: Genau so ist es.

    Unterschichten werden gemacht, ihre Selbsteinschätzung hängt vor allem mit dem Umfeld zusammen und ständiges Vor-Augen-Führen der eigenen Unterschichtigkeit wird sicher nicht die politisch gewünschte Verbesserung der Situation bringen.

     

    Warum diese wichtigen Erkenntnisse mit einer Polemik auf Herrn Sarrazin einhergehen müssen, dessen Thesen sich vorrangig auf ganz andere politische Prozesse (Einwanderungspolitik etc.) beziehen, bleibt dem Autor überlassen. Vielleicht ist es allein der Plakativität geschuldet - es sorgt jedenfalls dafür, dass dieser Artikel seine eigenen hilfreichen Erkenntnisse in den Hintergrund rückt.

  • CL
    Canis Lupus

    Können Herzen Schreiben? Anscheinend ja! Danke!!!

  • G
    Glucke

    Sehr niedlich beobachtet! Häßlichkeit kann auch eine unreflektierte, undifferenzierte, kulturlose Haltung bedeuten, die letzte Stufe im Kampf of the New Rich vs. the Old Poor, Designer-Outlet vs. Humana. Welche Plünnen man anhat, ist eigentlich egal, zumindest für die sog. Unterschicht. Viel frappierender finde ich, dass überambitionierte, ignorante, gewinnmaximierte Ostler aus dem medialen Focus geraten sind. Denn diese Schicksale heischen auch nach Beachtung. Und vermutlich mehr, als man allgemein annimmt.

  • F
    fridolin

    zum teil interessant. danke

  • W
    willy

    "Hässlichkeit ist nie natürlich"

     

    Dummheit ist auch nicht Jedem gegeben, trotzdem empfinde ich keinen Neid!

  • D
    Daniel

    schön!

     

    welche Felder habe ich denn nicht ausgefüllt??

  • W
    Wessi

    Erst Sarrazin ignorieren und dann so ein Quatsch als Kommentar...

    Dieser Artikel ist das was man wohl ostalgisch nennt.