Ahmet Toprak über jugendliche Migranten: "Sie sind fasziniert von dieser Macht"
An der Schule riefen sie ihn "Scheißtürke", heute erforscht Ahmet Toprak gewalttätige Migrantenjungs. Deutschenfeindlichkeit existiert, sagt er. Eigentlich gehe es aber um Diskriminierung.
taz: Herr Toprak, derzeit wird viel über Deutschenfeindlichkeit insbesondere unter muslimischen Schülern gesprochen. Wie bewerten Sie das?
Ahmet Toprak: Ich finde den Begriff unglücklich. Es geht um Diskriminierung. Und Diskriminierung gibt es immer dort, wo es Machtgefälle gibt. Früher waren die Schulen besser durchmischt. Wenn deutsche Schüler in Berliner oder Essener Schulen jetzt in der Minderheit sind, dann werden sie diskriminiert. Für uns Wissenschaftler ist das etwas ganz Triviales, weil Minderheiten immer diskriminiert werden.
Ist das, was sich an den Schulen abspielt, also keine Verschärfung?
Ahmet Toprak, 40, ist Professor für Erziehungswissenschaften an der Dortmunder Fachhochschule. Zuvor hat Toprak, der in der Türkei die Grund- und in Köln die Hauptschule besucht hat, jahrelang mit gewalttätigen Jugendlichen und jungen Männern mit Migrationshintergrund gearbeitet. Er hat vielfach zum Thema veröffentlicht, darunter: "Das schwache Geschlecht - die türkischen Männer. Zwangsheirat, häusliche Gewalt, Doppelmoral der Ehre" und zuletzt: "Integrationsunwillige Muslime? Ein Milieubericht".
Das Problem: Nachdem das Mobbing deutscher Schüler an einigen Berliner Schulen öffentlich wurde, wird viel über "Deutschenfeindlichkeit" diskutiert. Mit dazu beigetragen hat Familienministerin Kristina Schröder (CDU), die das Problem als "alltäglich" bezeichnete und beklagte, auch selbst bereits als "deutsche Schlampe" beschimpft worden zu sei. "Auch Deutschenfeindlichkeit ist Rassismus", sagte Schröder. Belastbare Zahlen oder wissenschaftliche Untersuchungen zum Thema gibt es bislang nicht.
Der Zusammenhang: Schröder diskutiert Deutschenfeindlichkeit im Zusammenhang mit Islam, Männlichkeitsnormen und Gewalt. Zu diesen Fragen hat sie jüngst zwei Expertisen eingeholt, eine davon hat Ahmet Toprak unter dem Titel "Jugendliche Migranten - muslimische Jugendliche: Gewalttätigkeit und geschlechtsspezifische Einstellungsmuster" mitverfasst. Bei der öffentlichen Vorstellung der Expertisen machte Schröder deutlich, sie gehe davon aus, dass eine erhöhte islamische Religiosität mit Männlichkeitsnormen korreliere, die zu Gewalt führen. Toprak aber kommt zu dem Schluss, es gebe keine Belege für eine höhere Gewalttätigkeit von Muslimen.
Grundsätzlich nicht. Bei manchen Schülern mit Migrationshintergrund hat sich ein enormer Frust aufgebaut, weil sie sich an der Gesellschaft nicht so beteiligen können, wie sie wollen. Das Problem beobachten wir ja in Hauptschulen in schwierigen Quartieren, von denen wir wissen, dass zum Beispiel in Berlin nur 8 Prozent der Schüler eine Lehrstelle bekommen. Mit der sogenannten Deutschenfeindlichkeit lassen sie den Frust raus.
Hat Diskriminierung an den Schulen früher eine andere Gruppe getroffen, weil sie in der Minderheit war?
Ja, genau das will ich damit sagen. Ich habe in den 80er Jahren die Hauptschule besucht, und da war es an der Tagesordnung, dass wir beleidigt und drangsaliert wurden. Knoblauchfresser, Scheißtürke, das war für uns etwas Alltägliches. Wir waren damals in der Minderheit, und es gab ein klares Machtgefälle: Die deutschen Jugendlichen hatten das Sagen. Heute ist das an manchen Schulen ganz anders, da sind die Deutschen in der Minderheit, und die Migranten fühlen sich mächtig.
Also alles nicht so schlimm?
Nein. Natürlich gibt es dieses Problem, das muss man ganz klar sagen. Diskriminierung kann man nicht gutheißen. Aber man muss sie im Zusammenhang sehen.
Für Familienministerin Schröder ist Deutschenfeindlichkeit ein Problem in dem Gefüge von Islam, Machogehabe und Gewalt. Sie sagt, islamische Religiosität korreliere mit Männlichkeitsnormen, die zu Gewalt führen. Was meinem Sie?
Es gibt diesen Dreiklang, aber der Zusammenhang ist bedingt. Jugendliche mit wenig Selbstwertgefühl, die keine Perspektive haben, suchen Identifikationsfiguren. Wenn sie keine finden, spielen andere Faktoren wie Männlichkeit oder Religion eine Rolle. Diese Faktoren können zu Gewaltbereitschaft beitragen, müssen aber nicht. Man muss also fragen, warum sich diese Jugendlichen auf Männlichkeitsnormen und Religion so kaprizieren. Untersuchungen zeigen: Wenn an anderer Stelle etwas nicht funktioniert, werden Männlichkeit und Religion zu Ankern, über die sich die Jugendlichen in der Gesellschaft positionieren. Diese Mischung kann zu Gewalt führen, muss es aber nicht.
Sie sagen also: Die Religion ist nicht die Ursache, sondern ein möglicher Schritt auf dem Weg zur Gewalt. Vor wenigen Monaten hat aber eine Studie des Kriminologischen Instituts in Niedersachsen für Furore gesorgt, die so zusammengefasst wurde: Je religiöser junge Muslime sind, desto härter schlagen sie auch zu.
Auch die Studie von Christian Pfeiffer zeigt, dass nicht die Religion die Ursache für die Gewalttätigkeit ist, sondern dass es die sozialen und wirtschaftlichen Probleme der Jugendlichen sind. Die Religion kommt dann irgendwann dazu. In den Medien ist das verkürzt dargestellt worden. Richtig ist: Es gibt keinen monokausalen Zusammenhang zwischen Religiosität und Gewalt, sondern ein Ursachenbündel, das zur Gewalttätigkeit führt. Religion kann dazugehören. Wobei überprüft werden muss, ob die Jugendlichen wirklich religiös sind oder nur auf einer religiösen Folie argumentieren, was etwas völlig anderes ist.
Sind muslimische Jugendliche nun gewaltaffiner oder sind sie es nicht?
Die Religion ist nicht das Entscheidende. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass Migrantenjugendliche - unabhängig von ihrer Religion - gewaltaffiner sind. Die Wissenschaftler sind sich aber im Kern einig, dass Religion und ethnische Herkunft nicht die entscheidenden Kriterien sind. Wichtiger sind Bildung, Perspektivlosigkeit, eingeschränkte verbale Fähigkeiten, eigene Gewalterfahrungen, ein traditionelles Männlichkeitsbild. Bei Migranten ist all das häufiger anzutreffen, weil sie vor allem in sozialen Unterschichtsmilieus mit geringem Bildungsniveau unterwegs sind.
Aber nicht jeder Hauptschüler mit arbeitslosen Eltern schlägt zu. Warum kommt das bei Jungen aus Einwandererfamilien so häufig vor?
Viele von ihnen haben nicht gelernt zu argumentieren, einen Kompromiss zu suchen, Konflikte auszuhandeln. Sie haben in der Familie und auch bei Freunden gelernt, dass Gewalt Probleme löst. Sie haben gelernt: Wenn ich Gewalt anwende, bin ich stark, dann habe ich Macht. Jugendliche, die Gewalt anwenden, sind meist selbst Opfer geworden.
Was läuft in diesen Familien ab?
Häufig gibt es Arbeitslosigkeit, Alkoholprobleme, fehlende Kommunikation. Die Eltern sind schlechte Vorbilder: Der Vater schlägt die Mutter oder umgekehrt, die Kinder beobachten das. Sie sind fasziniert von dieser Macht.
Ist der Vater das Problem?
Der Vater ist bei häuslicher Gewalt häufig der Täter. Man darf aber auch die Geschwister nicht vergessen: Es kommt auch vor, dass der große Bruder den kleinen schlägt.
Die Väter in solchen Familien haben häufig Probleme, ihr Leben auf die Reihe zu bekommen. Untergräbt das nicht ihre Autorität?
Genau darum geht es. Die Väter versuchen mit Gewalt ihre Autorität durchzusetzen, obwohl sie häufig von den Kindern abhängig sind: Die übersetzen und können sich viel besser in der deutschen Gesellschaft bewegen.
Der Vater vermittelt also ein Männlichkeitsbild, das er gar nicht erfüllt. Warum machen die Söhne das mit?
Die Jugendlichen machen häufig eine Gratwanderung: Sie dulden dieses Bild, bis sie erwachsen sind, und gehen dann aber den eigenen Weg.
Perspektivlose Hauptschüler mit Migrationshintergrund gibt es sehr viele. Bedeutet das automatisch, dass unsere Gesellschaft vor einem massiven Gewaltproblem steht?
Wenn sich die Gesellschaft entscheidet, auf Konfrontation und Schuldzuweisungen zu setzen, wie es derzeit der Fall ist, dann kann ich mir vorstellen, dass sich die Situation zuspitzen wird. Die Migranten sind inzwischen bereit, sich zu wehren. Diskriminierung gab es auch in der ersten Generation, aber die ist anders damit umgegangen. Sie hat sich als Gast gefühlt, die dritte und vierte aber will dazugehören, will mitreden und die gleichen Rechte und Chancen haben. Denen muss man mehr Angebote machen. Aber auch wenn einiges verbessert werden muss, vieles in Deutschland funktioniert gut. Wir werden keine Verhältnisse wie in den französischen Vororten bekommen.
Sie haben als Sozialarbeiter mit gewalttätigen Jugendlichen gearbeitet. Was macht man mit denen?
Wir haben Antiaggressionstrainings durchgeführt und versucht, den Jugendlichen Möglichkeiten zur Konfliktbewältigung aufzuzeigen. Man könnte auch sagen: soziale Kompetenz, die haben sie nämlich nicht gelernt.
Das hört sich in der Theorie sehr schön an. Aber wie funktioniert das praktisch bei jungen Männern, die mehrfach gewalttätig geworden sind?
Die Trainings laufen zwölf Wochen lang. Die Täter müssen sich zunächst Fotos ihrer Opfer ansehen, damit werden sie erstmals mit den Folgen ihrer Tat konfrontiert. Sie versuchen, sich zu rechtfertigen. Der hat meine Freundin blöd angeguckt, heißt es dann zum Beispiel. Wir arbeiten sehr viel mit Rollenspielen. Dabei geht es natürlich auch um Männlichkeitsbilder.
Und was ist Ihre Erfahrung, Fruchtet das?
Zumindest laut Selbsteinschätzung der Jugendlichen hat sich etwas geändert. Nach sechs Monaten sagen sie: Ich gehe mit Konflikten anders um. Harte Daten gibt es nicht.
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