Bloß nicht zu viel um sich selbst kreisen

SEELE Eine Psychotherapie kann auch Nebenwirkungen haben: Abhängigkeiten und Problemfixierung etwa

Therapieformen: Die gesetzliche Krankenversicherung übernimmt die Kosten für folgende drei Verfahren: In der „analytischen Psychotherapie“ behandelt der Therapeut die konflikthafte unbewusste Verarbeitung von Lebenserfahrungen, die Ursache einer psychischen Erkrankung sind. In der „tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie“ suchen die Behandelnden nach schädlichen Erfahrungen in der Lebensgeschichte der Patienten und nach Möglichkeiten, Konflikte künftig besser zu lösen. Beide Methoden gelten als „psychodynamische Verfahren“. In der „Verhaltenstherapie“ liegt der Schwerpunkt dagegen im aktuellen Üben von Verhaltensweisen, mit denen etwa schädliche Denkmuster verändert oder Ängste bewältigt werden können.

Die Therapien: Laut Bundespsychotherapeutenkammer behandeln 22.800 niedergelassene ärztliche und psychologische Psychotherapeuten etwa eine Million PatientInnen in Deutschland im Jahr. Die Kasse bezahlt Psychotherapien von 25 Stunden, oft wird auf 50 Stunden verlängert. Lange Psychoanalysen mit einer Dauer von 160 Stunden werden heute dagegen seltener bewilligt.

VON BARBARA DRIBBUSCH

Die nervöse Rothaarige tauchte eines Tages in einer Selbsthilfegruppe in Berlin-Schöneberg auf. Sie sei gut aus ihren akuten Angstzuständen vor zwei Jahren herausgekommen, erzählte die Frau. Sie habe einen ganz tollen Therapeuten. „Supertyp, keiner versteht mich so wie er.“ Ihr einziges Problem liege darin, dass die von der Kasse bezahlte Behandlung demnächst zu Ende sei: „Ich kriege die nackte Panik, wenn ich daran denke.“

„Solche Fälle hatten wir mehrfach“, erzählt Silke M., Mitglied der Selbsthilfegruppe. Abhängigkeit vom Therapeuten gehört zu den bisher wenig thematisierten Nebenwirkungen mancher Behandlung. „Die Erfassung von Nebenwirkungen hat in der Psychotherapie vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit gefunden“, sagt der Berliner Psychiater Michael Linden, Mitherausgeber des demnächst erscheinenden Buches „Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie“. Auf einem Symposium der Schlosspark-Klinik in Berlin diskutierten Linden und andere ExpertInnen unlängst das Problem.

Linden riet dabei zu Differenzierung: Sexuelle Übergriffe in der Psychotherapie etwa seien kriminelles Verhalten und ein Extremfall. Nebenwirkungen können ansonsten eintreten als Folge bestimmter Vorannahmen und Strategien und im Kontext der therapeutischen Beziehung, etwa wenn der Behandler den Patienten zu etwas drängt, das dieser nicht will.

Nebenwirkungen könnten sich aus einer „Problemfixierung“ in der Therapie ergeben, berichtete Dirk Schmoll, leitender Oberarzt für Psychiatrie an der Schlosspark-Klinik. Eine solche Fixierung in den analytischen Verfahren kann dazu führen, dass PatientInnen mit dem Therapeuten jahrelang um ihre Vergangenheit und das schwierige Verhältnis zu den Eltern kreisen und sich damit der Auseinandersetzung mit ihrem sozialen Umfeld und lebenspraktischen Fragen entziehen.

Schmoll berichtete von einem Langzeitstudenten, der in jahrelanger Psychoanalyse seine ambivalente Vaterbeziehung bearbeitete, dabei erforderliche Hausarbeiten und Prüfungen immer wieder aufschob und so in einen Strudel aus Minderwertigkeitsgefühlen und tatsächlichem Versagen geriet. „Eine Woche vor der Prüfung brach er zusammen und wurde stationär aufgenommen“, berichtete Schmoll.

Auch das Konzept der „Deutung“, typisch für analytische Verfahren, kann mitunter heikel sein. Scholl schilderte den Fall einer 40-jährigen Frau, die sich einer mehrjährigen Behandlung bei einem renommierten Analytiker unterzog. Als die Kapazität die Aussagen seiner Patientin auf der Couch so deutete, dass sich die Dame wohl eine sexuelle Beziehung mit ihm wünsche, erzeugte dies bei ihr große Ängste und ein Gefühl von Ausgeliefertsein. Die Interpretation weckte Erinnerungen an ein früheres Erlebnis, wo sie einen sexuellen Übergriff erlebt hatte. Eine Psychotherapie sei eine „hoch asymmetrische Beziehung“, warnte Linden. Dabei kann das Reden über Probleme, ohne Lösungswege zu suchen, mitunter dazu führen, dass sich PatientInnen hinterher schlechter fühlen und Ängste weiter geschürt werden, statt abzuklingen.

Deutlich sichtbar werden Nebenwirkungen in der Verhaltenstherapie, die Alltagsbewältigung vor Ursachenfindung stellt, wenn „Expositionen“ schlecht vorbereitet sind und PatientInnen in deren Rahmen angstmachenden Situationen zu unvermittelt ausgesetzt werden. Solche Expositionen könnten eine Re-Traumatisierung zur Folge haben, erläuterte die Marburger Psychologin Yvonne Nestoriuc. Nestoriuc beschrieb überdies einen möglichen Effekt manchen Verhaltenstrainings: So könne etwa das „Übertrainieren“ sozialer Kompetenzen wie die persönliche Abgrenzung gegenüber Forderungen der Umwelt dazu führen, dass die Klienten einen „sozialen Egozentrismus“ entwickelten.

Kontraindiziert bei sozialen Ängsten seien unter Umständen Entspannungsverfahren, meinte Nestoriuc. Es bringt beispielsweise nichts, vor einer angstmachenden Präsentation im Job möglichst tief zu entspannen. Die Aufregung, das Lampenfieber zu durchleben, dann zu merken, dass die Situation nicht gefährlich ist und sich dann entspannen zu können, ist der bessere Weg.

Ist der Partner erst mal weg, der Job geschmissen, die Mutter verteufelt, muss es einem hinterher nicht unbedingt besser gehen

Eine Erhebung via Fragebögen von Nestoriuc unter KlientInnen der Psychotherapieambulanz in Marburg ergab, dass 81 Prozent über keinerlei negative Effekte der verhaltenstherapeutischen Behandlung berichteten. Im Rahmen einer Onlinebefragung von ehemaligen Psychotherapiepatienten – bei der erfahrungsgemäß eher kritische Stimmen eine Rückmeldung schicken – berichteten jedoch lediglich 5 Prozent von keinen negativen Wirkungen.

Linden unterscheidet Nebenwirkungen von „unerwünschten Ereignissen“ während der Psychotherapie. So sind Trennungen von Lebenspartnern ein häufiges „Ereignis“ während einer Psychotherapie. Oft sei es dabei schwierig, zu entscheiden, „ob beispielsweise eine Scheidung im Kontext einer Psychotherapie als positive oder negative Behandlungsfolge einzuschätzen ist“, meint der Psychiater. Therapeuten raten mitunter davon ab, während einer Behandlung irreversible Lebensentscheidungen zu treffen. Ist der Partner erst mal weg, der Job mit dem stressigen Chef geschmissen, die Mutter verteufelt, sind alle Kontakte zur Herkunftsfamilie abgebrochen, muss es einem hinterher nicht unbedingt besser gehen.

Einige der Psychiater kamen auf dem Symposium zu dem Schluss, Patienten vor und während der Behandlung über mögliche Nebenwirkungen und Risiken aufzuklären. Psychotherapeuten sollten ihre eigenen fachlichen Grenzen erkennen, forderte Linden. Ein Wechsel des Therapieverfahrens und des Behandlers oder der Behandlerin ist für den Patienten auch nach vielen Stunden immer noch möglich, muss dann aber vor der Krankenkasse ausführlich begründet werden.

Die rothaarige Angstpatientin, erzählt Silke M., bekam von der Selbsthilfegruppe zu hören, dass auch andere Mitglieder wissen, wie schmerzhaft es sein kann, sich aus der Abhängigkeit von einem Therapeuten zu lösen. Mehr konnte die Gruppe nicht tun. „Diese Aufklärung müssten eigentlich die Therapeuten selbst leisten“, sagt Silke M., „und zwar rechtzeitig.“