Neues Album von Saint Etienne: Die magische Unschuld des Pop

Das Londoner Trio Saint Etienne veröffentlicht nach sieben Jahren ein neues Album. „Words and Music“ ist ein Statement gegen das Authentische im Pop.

Suche nach dem reinen Popsong: Saint Etienne. Bild: Universal

Kein Apparat repräsentiert vielleicht so passend das abgelaufene analoge Popzeitalter wie die Jukebox. Im Gegensatz zum „ortlosen“ Internet gehörte sie an einen bestimmten sozialen Ort, die Stammkneipe. Und während das Musikangebot im Netz „grenzenlos“ ist, bot dieses mechanische Abspielgerät eine begrenzte Auswahl an.

Diese orientierte sich meist an der Hitparade, also an Messverfahren einer Popkulturindustrie, deren Macht durch die Digitalisierung heute massiv geschwunden ist. Nicht zuletzt spielte die Jukebox mit der Single ein Medium ab, das für das Immer-wieder-noch-mal-von-vorne-Spielen gemacht war, also für die Wiederholung als Grundprinzip des analogen Pop.

Seit ihrer Gründung 1990 schreiben Saint Etienne „Pop“ in größtmöglichen Lettern und tun heute – im Zeitalter ihrer digitalen Reproduzierbarkeit – alles dafür, um Popmusik wieder zu verzaubern. Es ist also kein Zufall, dass die Jukebox im Bedeutungskosmos der Londoner Band eine fetischhafte Rolle spielt. „Haunted Jukebox“ heißt das letzte Stück auf „Words and Music“, ihrem ersten richtigen Album seit sieben Jahren.

Und mit „Songs for the Lyons Cornerhouse“ erscheint dieser Tage eine Kompilation handverlesener Fünfzigerjahre-Musik, die Saint-Etienne-Mastermind Bob Stanley für die imaginäre Jukebox seines Londoner Lieblingsrestaurants Lyons Cornerhouse zusammengestellt hat. Dieses Album ist die Fortsetzung von „Songs for Mario’s Cafe“ und „Songs for the Dog & Duck“, die der selben kuratorischen Idee folgten.

Sentimentale Patina

Bob Stanley, Sarah Cracknell und Pete Wiggs zelebrieren die magische Unschuld des klassischen Dreiminuten-Popsongs, ohne deshalb – das ist entscheidend – je stumpf sentimental zu werden. Die drei sind Pop-Nostalgiker, die mit unnostalgischen Mitteln arbeiten. Seit jeher trägt ihre Musik eine sentimentale Patina mit sich, klingt aber dennoch immer technologisch zeitgemäß und nie vordergründig „retro“.

Waren es bei ihren frühen Indie-Hits wie „Nothing can stop us“ oder dem genialen Neil-Young-Cover „Only Love can break your heart“ die multiplen elektronischen Klänge der Nach-Acid-House-Ära, so sind es inzwischen Postproduction-Techniken für durchdigitalisierten Designerpop, derer sich Saint Etienne bedienen – eigenwillig und mit Understatement.

Dass sich die nostalgische Reminiszenz am liebsten an soziale Orte heftet, illustriert das Cover von „Words and Music“. Darauf ist eine „Song Map“ zu sehen, auf der Straßen und Plätze nach ortsspezifischen Songs benannt sind: „Orchard Road“ (Leo Sayer), „Devil Gate Drive“ (Suzi Quatro), „Penny Lane“ (Beatles) und so weiter. Überhaupt handelt Saint Etiennes achtes offizielles Album von der Sozialisationsmacht der Popmusik. Man könnte von „Metapop“ sprechen. Die Songs tragen ulkig selbstreferenzielle Titel wie „I’ve Got your Music“, „Last Days of Disco“ oder „DJ“.

In den ersten Zeilen des Albums, im Auftaktsong „Over the Border“, erinnert Sarah Cracknell andächtig an ihre Selbstwerdung in guten alten Analogzeiten: Genesis, Smash Hits, das schottische Postcard-Label, New Order, Top of the Pops werden als inoffizielle Erziehungsberechtigte genannt. „It all happened because of music“, singt Cracknell. Es kam, wie es kam, wegen der Musik. Das ist schönste Pop-Metaphysik, klanglich perfektioniert „Words and Music“ die 1991 mit dem Post-Rave-Hit „Only Love will break your heart“ entwickelte Saint-Etienne-Methode: Zeitgemäße Sounds und ein von Creation-Bands, Italohouse, 60s-Pop und Soul informiertes Songwriting fügen sich zu einer bittersüßen Melange.

Gemachtheit von Gefühlen

Euphorische Aufbruchstimmung wie in der Ausgehhymne „Tonight“ und eine für 40-Somethings unvermeidliche Melancholie schließen sich dabei keineswegs aus. „Heading for the Fair“ reanimiert das Italo-House-Piano aus älteren Saint-Etienne-Stücken, während „I’ve got your music“ wie ein endlich mal wieder konsensfähiger neuer Madonna-Hit klingt. Eingängige Hooklines finden sich reihenweise. Das Bemühen, den perfekten Popsong zu schaffen, ist immer spürbar.

In seinem viel zitierten Buch „Retromania“ hat der britische Musikjournalist Simon Reynolds der Band diesen Perfektionswillen vorgeworfen: Die Songs blieben steril, distanziert, letztlich ohne echte Emotion. Doch greift diese Kritik nicht zu kurz? Stellen Saint Etienne nicht gerade mit ihrer Arbeit am „objektiven“ Song den inszenierten Charakter all der von Popsongs produzierten „großen Gefühle“ aus? „Words and Music“ ist in diesem Sinne ein Popalbum, das die Gemachtheit dieser Gefühle kommentiert, es ist damit auch ein Statement gegen das Authentische, das Reynolds unter der Hand einfordert. Seine Kritik an Saint Etienne ist ungefähr so sinnvoll, wie ein kubistisches Gemälde nichtssagend zu finden, weil die Dinge darauf gar nicht wie echte Dinge aussehen.

Sicher, die Suche nach dem reinen Popsong mündet selten in ästhetischen Fortschritt, ihr haftet oft etwas sympathisch Rückwärtsgewandtes an. Rührend anachronistisch ist denn auch das Crowd-Management der Band. Seit vielen Jahren verschicken sie zur Weihnachtszeit eine exklusive CD an die Mitglieder ihres Fanclubs. Diese altertümliche Top-Down-Kommunikation kommt einem vor wie ein Gegenmodell zum Schwarmpop auf Blogs und Seiten wie Pitchfork, wo wöchentlich ein neues Mikrogenre erfunden wird. Zugleich rechnen Saint Etienne immer mit der Sammelwut der Komplettisten und veröffentlichen ständig exklusive und limitierte Singles und Alben. Nicht selten bewegt sich das an der Grenze zur Beutelschneiderei.

Leicht angeprollt

Stanley, Wiggs und Cracknell sind Meister der mehrfachen Zugänge: Ihre Musik eignet sich genauso für den unbedarften Konsum von Musikhörern, die sich nicht näher für Musik interessieren, wie für das Mehr-Wissen-Wollen der Connaisseure und Nerds. Ein Saint-Etienne-Artikel, den ich 1998 für das Magazin Spex schrieb, wurde vom damaligen Chefredakteur mit „Das individuelle Allgemeine“ übertitelt. Soll heißen: Wer mag, kann die balearische Metaatmosphäre oder die leicht angeprollten Europop- und Handbag-House-Momente genießen. Wer mehr will, erspäht die Fußnoten zur Musikgeschichte, identifiziert die Northern-Soul- und Film-Samples auf den älteren Alben oder die Softrock-Referenzen auf den neueren.

Oder er nutzt Saint Etienne gleich als „Portal Band“, wie wiederum Simon Reynolds es nannte, und schaut, was die Band sonst noch an hippem Wissen teilt. Nebenschauplätze und Nebenprojekte dafür gibt es mehr als genug: Sarah Cracknell hat gerade Songs mit Debsey Wykes von der großartigen aber vergessenen Indie-Pop-Band Dolly Mixture aufgenommen. Der Plattensammler und Teilzeitmusikjournalist Bob Stanley legt regelmäßig auf und ist ein Spezialist für Linernotes in Reissues und Compilations, etwa zur C86-Szene.

Nebenbei veröffentlicht Stanley Bücher mit alten Fußball-Programmheften. Zudem besorgen sich Saint Etienne stets coole Remixer und CD-Booklet-Schreiber, zum Beispiel die Punkikone Mark Perry. Oder sie kooperieren mit anderen Künstlern wie etwa den Berlinern von To Rococo Rot auf dem Album „Sound of Water“. Lange vor den für ihr geschmeidiges Multitasking gefeierten Hot Chip praktizierten Saint Etienne ein offenes Bandmodell. Dadurch schaffen sie Zugangsgerechtigkeit für unterschiedliche Hörer und Hörweisen.

In den diversen Nebenprojekten der Band ist ähnlich wie in der Musik ein ’analoges‘ Begehren nach verschwundenen und verschwindenden Erfahrungen, Orten und Objekten am Werk. Einen besonderen Platz nehmen dabei die London-Filme ein, die in Zusammenarbeit mit dem Regisseur Paul Kelly entstanden sind. Neben „Finisterre“ (2002) und „This is Tomorrow“ (2007) entstand 2005 die Doku-Erzählung „What have you done today, Mervyn Day?“, in welcher der Ostlondoner Stadtteil Hackney vor seiner Neustrukturierung für die Olympischen Spiele festgehalten wird. Rechtzeitig zur Olympiade soll der Film diesen Sommer auf DVD erscheinen.

Es ist nicht übertrieben, insbesondere bei Bob Stanley von einer romantischen London-Obsession zu sprechen, das Cover von „Words and Music“ orientiert sich übrigens grob an dem Londoner Stadtteil Croydon. Die ausgestellte „Londonness“ ist wichtiger Bestandteil des allumfassenden Saint-Etienne-Popismus. Dieser versprüht letztlich eine tragische Freude: Denn Saint Etienne wollen sich von der Illusion des zeitlosen Popsongs nicht verabschieden, obwohl sie das Vergängliche so sehr begehren. Längst stehen die Jukeboxen in Museen und Hobbykellern, doch Stanley, Cracknell und Wiggs tun so, als könnte die perfekte Single noch Seelen retten. In einigen Momenten ihres neuen Albums sorgen sie allerdings dafür, dass auch der Hörer daran glaubt.

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