Thalheimerinszenierung in Berlin: Der Enkel in der kalten Zugluft

Einen Reigen der Niedertracht schilderte Ödon von Horváth in den „Geschichten aus dem Wiener Wald“, die Michael Thalheimer in Berlin inszeniert hat.

Marianne (Katrin Wichmann) geht bald dem Hallodri Alfred (Andreas Döhler) auf den Leim, um Oskar zu entkommen. Bild: Arno Declair

Oskar klemmt. Es ist nicht nur seine Hand, die beim Herausholen der Bonbonschachtel aus der Jackentasche gefühlte Minuten lang den Weg nicht mehr herausfindet, es ist der ganze Mann, der in seinem Traueranzug feststeckt wie in einem zugezogenen Sack. Das tut fast weh, diesem Nicht-Herauskönnen aus der konfektionierten Form zuzuschauen. Auch Marianne, seiner Verlobten.

Aber Mitleid reicht zur Liebe nicht. Denn Marianne sieht auch, dass Oskar, der Fleischermeister, der ihr vom Vater diktierte Verlobte, freiwillig die Beschränkung lebt. Was er als sozialen Status hochhält, lässt ihr keinen Raum für Entwicklung. So ist das.

Es ist spannend und es ist Slapstick, wie Peter Moltzen als Oskar und Katrin Wichmann als Marianne diese Beziehung mit wenigen Strichen an der Bühnenrampe skizzieren in Michael Thalheimers Inszenierung der „Geschichten aus dem Wiener Wald“ von Ödon von Horváth. So schnörkellos und schnell auf den Punkt gekommen kennt man die Handschrift des Regisseurs in Hamburg, Berlin und Frankfurt. Aber dennoch bekommt man diesmal von etwas zu wenig, dass ihn sonst auszeichnet – von der Empathie mit den Figuren.

Überzeichnet zur Karikatur

Vergleicht man seine „Geschichten aus dem Wiener Wald“ mit zwei Stücken von Gerhart Hauptmann – „Die Ratten“ und „Die Weber“, die er ebenfalls am Deutschen Theater in Berlin inszeniert hat, ist der Unterschied eklatant. Als hätte sein Interesse etwa am Spielwarenhändler Zauberkönig, der Frauen allein nach ihrer Nützlichkeit für seine eigene Bequemlichkeit beurteilt, oder der Trafikantin Valerie und ihrem Appetit auf junge Männer, diesmal nicht ausgereicht, ihnen mehr als eine karikaturenhafte Überzeichnung zu widmen.

Auch bei Hauptmann handeln die Menschen, weil sie unter Druck geraten sind, irrational und gemein – aber stets war dabei in Thalheimers Interpretationen auch etwas von dem Schmerz zu spüren, nicht besser sein zu können.

Die „Geschichten aus dem Wiener Wald“, 1930 geschrieben, erzählen von Gehässigkeit, Neid und Niedertracht in einer kleinbürgerlichen Gesellschaft. Andere fallen zu sehen, das ist ihr Vergnügen. Marianne, vor Oskar in die Arme des Hallodri Alfred geflohen und bald allein sitzengelassen, ist ihr willkommenes Opfer.

Nährboden für Faschismus

Einen guten Nährboden für den Faschismus bietet dieses Panoptikum. Der wird nicht nur in den judenfeindlichen Reden Erichs, eines Studenten aus Deutschland und zukünftigen Juristen, sichtbar. Sondern auch in der Kälte der Übrigen und in der Leichtfertigkeit, mit der sie Verrat begehen. Oder ein ungeliebtes Enkelkind in die kalte Zugluft schieben.

Spannend macht diese Geschichte aber erst der Widerspruch; der Kampf ums eigene Glück, den Horváth den meisten seiner Figuren mitgegeben hat. Dass ihre Verfehlungen und Notlügen so eindeutig nicht zu verurteilen sind, weil sie ja auch nur teilhaben wollen an dem, was die Besitzstandswahrung in der autoritär und hierarchisch geordneten Gesellschaft ihnen vorenthält. Doch von diesem Widerspruch ist nicht viel zu spüren in dieser Inszenierung.

So vermeidet sie zwar die Falle der Sentimentalität, der bei Horváth nicht leicht zu entkommen ist. Aber um den Preis der Eindimensionalität. Nach und nach tragen die Schauspieler Karton-Gesichter vor den eigenen: mit Punkten und Strichen auf einen minimalen Ausdruck ihres Missmuts reduziert. Eine symbolische Geste, die leicht zu entschlüsseln ist – erstarrt im Unglück sind sie am Ende alle.

Und dennoch wirkt dieses Mittel der Inszenierung tautologisch, denn erstarrt waren sie schon am Anfang, als sie dem Publikum im hell ausgeleuchteten Saal auf der Bühne bewegungslos gegenübersitzen, während des langen Walzers „An der schönen blauen Donau“. Ein grandioser Beginn übrigens. Hätten dann nur nicht den bald wie in einem mechanischen Uhrwerk nach vorne kommenden und wieder zurückkehrenden Figuren jene Nuancen gefehlt, die uns mit mehr Interesse an sie gebunden hätten. Wären sie doch nicht ganz so ausrechenbar von Anfang an, es gäbe mehr Anlass, ihnen in ihre beängstigende Welt zu folgen.

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