: Mord im Orient-Express auf Friesisch
Regionale Kriminalgeschichten sind vor allem für diejenigen interessant, die den Ort der Handlung kennen oder dort sogar zu Hause sind. Dennoch müssen die Romane mehr bieten als ein x-beliebiger Reiseführer. Die Anthologie „Fiese Friesen“ gibt einen Überblick über Krimis aus dem Nordwesten
von Tim Schomacker
Warum zieht es einen jungen Mann, der „einen Supermarkt in Berlin-Marzahn überfallen und dabei einen Kunden erschossen“ hat, ausgerechnet nach Wittmund? Imke, die Urlaubsbekanntschaft aus der Weser-Ems-Region, dürfte kaum der Grund sein. Auch wenn der Mörder beteuert, er „brauche sie so dringend, wie ein Junkie seinen Stoff“. Die Wahrheit ist: Er ist auf der Flucht. Und die Wahrscheinlichkeit, in einem Wittmunder Geschäft das eigene Fahndungsfoto zu sehen, scheint ihm angenehm gering. Weil es noch dauert, bis Imke nach Hause kommt, schlendert er durch die Kleinstadt. Gleichsam im Vorübergehen teilt uns der Text von Horst Bosetzky – veröffentlicht unter seinem Pseudonym „-ky“ – mit, dass „Friedrich der Große das Wittmunder Schloss im Jahre 1764 geschleift hatte.“
Will man eine Art Regelpoetik des Regionalkrimis aufstellen, gehören zwei Dinge dazu. Wie der Ort in der Wirklichkeit aussieht. Und welche Bilder man sich von diesem Ort macht. Im skizzierten Kurzkrimi „Wittmunder Wirrungen“, der die unlängst erschienene Anthologie „Fiese Friesen“ beschließt, ist beides der Fall. Die Information zu Friedrich dem Großen steht auf einer Tafel am wirklichen Wittmunder Schlosswall. Und zum Bild dieses Ortes gehört, dass er von Berlin aus gesehen wirklich sehr weit weg ist.
Mit dem regional angebundenen Kriminalroman wurde Mitte der 1980er-Jahre eine neue Epoche in der deutschsprachigen Genreliteratur eingeleitet. Plötzlich wurde in jenem Dortmund ermittelt, das in der Wirklichkeit gerade auf einen Strukturwandel zusteuerte. Plötzlich kamen Kommissare aus Köln oder Hamburg, andere fuhren mit dem Auto in den letzten Winkel der Eifel. Große und kleine Verlage fanden eine lukrative Nische im Literaturbetrieb und AutorInnen eine neue Möglichkeit, ihre Texte zu publizieren. Und manchmal auch wie auf Bestellung zu schreiben.
Wie entdeckte der Krimi aber Kiez und Landkreis? Und für wen? „Regionalkrimis“, sagt der Autor und Krimiarchivar Reinhard Jahn in einer Bestandsaufnahme, „werden überwiegend in den Regionen gekauft und gelesen, in denen ihre Geschichten spielen.“ Kaum ein Mensch kauft sich einen Reiseführer für den eigenen Wohnort. Das Wittmund in der Geschichte muss ein anderes Wittmund sein als das, was man täglich aus dem Küchenfenster betrachten kann. Die Heimat im Regionalkrimi ist stets eine Heimat mit Anführungszeichen. Auf der Karte, die hier von einer Stadt oder einer Region gezeichnet wird, finden wir – als entscheidenden dramaturgischen Mehrwert – eine Parallelwelt.
Diese ähnelt der eigenen Lebenswelt genug, um, wie Jahn es formuliert, ein mitfühlendes Interesse an der Wiederherstellung der bestehenden Ordnung zu haben, wie es die Gattungsgesetze der Kriminalliteratur vorschreiben. Zugleich ist diese Heimat in Anführungszeichen aber auch entfernt genug, damit es Mord und Totschlag geben kann. In der Tradition sozial engagierter Autoren wie -ky oder Hansjörg Martin kann es schließlich darum gehen, Missstände in der wirklichen Welt, wenn nicht zu ändern, so doch in der fiktionalen Krimi-Welt zu markieren.
Der Regionalkrimi lebt also in einer Zwischenwelt. Das wird etwa deutlich, wenn Maeve Carels ihrem Buch „hot line“ die Bemerkung voranstellt, sie habe in einem „schmerzlichen Eingriff in das Stadtbild von Jever“ auf das altehrwürdige Marien-Gymnasium verzichtet und dieses durch das „vollkommen fiktive Karl-Jaspers-Gymnasium“ ersetzt. Vielleicht ein kleiner Gruß an die Lesenden in Jever, die ihren Krimi ohnehin nicht als Schlüsselroman gelesen haben dürften.
Negative Helden gebe es, meint der Krimiarchivar Jahn, im Regionalkrimi genauso wenig wie charismatische Superhelden. Die Neuerfindung der eigenen Lebenswelt geht eben behutsam vonstatten. Die „Fiesen Friesen“ mögen mit ihrem Hang zur Selbstironie und dem Vergnügen am Abstrusen darauf hindeuten, wie der Weg der kriminalistischen Zukunft aussehen mag: Voll von Büchern nämlich, die vielleicht in Ostfriesland spielen, ohne darum gleich Friesen-Krimis zu sein. Von Autoren, die etwas genervt sagen. „Irgendwo muss das Buch ja spielen.“