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Aktionskünstler Otto Muehl gestorbenPissaktion auf dem Professorenpult

Erst war er Österreichs Antwort auf die 68er-Bewegung, später wurde er wegen Missbrauchs Minderjähriger verurteilt. Jetzt ist Otto Muehl gestorben.

Blick in eine Ausstellung von Otto Muehl (Archivbild von 2004). Bild: Robert Jaeger/dpa

WIEN taz | „Ich hatte eher Angst vor ihm.“ So erinnert sich der Filmemacher Paul-Julien Robert an Otto Muehl. Robert wurde 1979 auf dem Friedrichshof geboren, Muehls Kommune im Burgenland. „Wir Kinder waren hauptsächlich während der Selbstdarstellungsabende in seiner Nähe, wo 200 Leute zusahen. Allein das war schon Furcht einflößend“, so der Kommunensproß, der vor wenigen Wochen seinen Dokumentarfilm „Unsere keine Familie“ vorstellte. Darin arbeitete er seine traumatische Kindheit unter dem Guru auf.

Otto Muehl starb am Sonntag 87-jährig in Portugal, wo er seit einigen Jahren lebte. Bekannt, um nicht zu sagen berüchtigt, wurde Muehl, als er im Juni 1968 mit Günter Brus und Oswald Wiener, dem Vater der bekannten Fernsehköchin Sarah Wiener, zur Aktion „Kunst und Revolution“ in den Hörsaal 1 der Wiener Universität einlud. Die Medien berichteten darüber als „Uni-Ferkelei“. Denn Teil der Aktion waren drei nackte Männer, die um die Wette urinierten: Otto Muehls Pissaktion. Einer entleerte seinen Darm auf dem Professorenpult.

Der ausgebildete Gymasiallehrer für Deutsch und Geschichte hatte an der Kunstakademie Günter Brus und Hermann Nitsch kennengelernt.

Mit ihnen gründete er eine neue Schule, die unter dem Namen Wiener Aktionmus in die Kunstgeschichte eingehen sollte: Österreichs Antwort auf die 68er-Bewegung. Brus experimentierte vor allem mit dem eigenen Körper, fügte sich Verletzungen zu und machte sich selbst zum Kunstobjekt, Nitsch ist bis heute für seine Schüttbilder und Blutorgien bekannt.

Auch Otto Muehl ging es darum, die Trennung zwischen Kunst und Leben aufzuheben. Um das zu verwirklichen, gründete er 1970 eine Kommune in Wien, die dann zwei Jahre später auf ein Landgut im Burgenland umzog: den Friedrichshof.

Die Gemeinde von Anhängerinnen und Anhängern schwoll im Laufe der Jahre auf 240 an. Insgesamt lebten um die 700 Menschen eine Zeit lang unter Muehls Kommando. So attraktiv war das Konzept, das dort radikal gelebt wurde: Selbstverwaltung und freie Liebe.

Otto Muehl, 1998 auf einer Pressekonferenz in Wien. Bild: Herbert Pfarrhofer/dpa

Wilhelm Reich stand Pate bei der sogenannten Aktionsanalyse, die durch die Urschreitherapie von Arthur Janov, Fritz Perls’ Gestalttherapie und Alexander Lowens bioenergetische Analyse angereichert wurde.

Radikale Enthemmung

Nackte Menschen saßen im Kreis, und wie bei evangelikalen Sekten mussten Einzelne in die Mitte treten und ihr Innerstes herausschreien, ihre Ängste, Begierden, verborgenen Fantasien herauslassen. Radikale Enthemmung durch radikale Selbstdarstellung hieß die Devise.

Privateigentum wurde abgeschafft, Kinder gemeinsam aufgezogen und in einer Schule auf dem Hof unterrichtet. Man lebte frei nach Wilhelm Reich: „Die Familie ist die Brutstätte aller Geisteskrankheiten.“ Wirtschaftlich setzte man auf Selbstversorgung durch landwirtschaftliche Produktion und Schweinemast. Verschiedene Werkstätten, wie eine Tischlerei und ein Mechanikerbetrieb, sowie ein auf Entrümpelungen spezialisiertes Transportunternehmen sorgten für Einkommen. Dank glücklicher Börsenspekulation schwamm Muehl sogar im Geld und konnte eine Zweigstelle auf der Kanaren-Insel Gomera errichten.

Dass die Ideale nur teilweise verwirklicht wurden, dämmerte vielen Kommunarden erst nach und nach. Der freie Sex stand vor allem dem immer mehr zum Guru mutierenden Otto Muehl zu, dem alle Frauen zu Willen zu sein hatten. Nicht nur die erwachsenen Frauen, wie spätestens während des Strafverfahrens im Jahr 1991 offenkundig wurde.

Freie Liebe und gegen Privatbesitz

Die Kommune nahm immer mehr den Charakter einer Sekte an. Dadurch wandten sich immer mehr Sympathisierende ab. Hatten die Kommunarden lange Zeit die Öffentlichkeit gesucht, Vorträge gehalten, zu Versuchsgruppen und Selbstdarstellungsarbeit mit Gästen geladen, Kinder- und Erwachsenentheater veranstaltet, so kapselte sie sich im Laufe der 1980er Jahre zunehmend ab, was den Nimbus der Sekte noch potenzierte.

Die Abschaffung des Privateigentums ließ sich nicht mehr durchhalten, die freie Liebe verlor in Zeiten von Aids endgültig ihre Anziehungskraft.

Es ist vielleicht kein Zufall, dass die Auflösung des Friedrichshofs mit dem Fall des Eisernen Vorhangs zusammenfiel.

1991 wurde Muehl vor Gericht gestellt. Die Justiz warf ihm Sittlichkeitsdelikte, Vergewaltigung, Verstöße gegen das Suchtgiftgesetz und Zeugenbeeinflussung vor. Vor allem wegen Missbrauchs Minderjähriger wurde er zu sieben Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Sechseinhalb musste er absitzen.

Dass einige seiner Opfer gegen ihn aussagten, erschütterte den Guru zunächst: „Die Stellungnahme der Jugendlichen damals im Gerichtssaal machte mich fassungslos. Ich wollte sie befreien und habe sie mit sexueller Überschreitung stattdessen überrumpelt und gekränkt.“ Den Unrechtsgehalt seiner Taten wollte er aber auch Jahre später nicht verstehen. „Warum sollte der Staat vorschreiben, ab wann man Sex haben darf?“, gab er in einem Interview mit der FAZ im Jahr 2004 zu Protokoll.

Kunst aus dem Gefängnis

Die Jahre im Gefängnis hat er weniger als Läuterung denn als Impuls für sein künstlerisches Schaffen verstanden. So resümierte er nach seiner Entlassung: „Die ganze Haft genommen muß ich sagen: positiv. Es hat mich echt weitergebracht. Ich habe mich als Künstler verwirklichen können, wie ich es draußen nie können hätte. Und der Druck der Justiz hat mich förmlich gezwungen dazu.“

Die Haft war zweifellos eine produktive Zeit, aus der zahlreiche Gemälde stammen. „Erst in der Haft“, so Muehl im Katalog zu einer Ausstellung im Wiener Museum für Angewandte Kunst (MAK) im Jahr 2004, „habe ich mich wieder auf den Aktionismus besonnen, die Justiz zwang mich dazu.“ Die Retrospektive im MAK hatte nicht den gewünschten Effekt der künstlerischen Rehabilitierung. Denn mehrere Missbrauchsopfer nahmen sie zum Anlass, um ihre Geschichte zu erzählen. Öffentlich entschuldigt hat sich Muehl bei seinen Opfern erst 2010 in einem offenen Brief anlässlich einer Ausstellung im Wiener Leopold Museum.

Wiener Schnitzel mit Farbe und Ironie

Über Muehls künstlerische Bedeutung sind die Meinungen geteilt. Manche stoßen sich an den explizit sexuellen Darstellungen oder den frauenverachtenden Perspektiven. „Otto Muehl panierte weibliche Gesäße wie Wiener Schnitzel, überschüttete nackte Körper mit Farbe und Essen – er schockierte, und das war damals noch möglich, mit Witz und Ironie“, erinnerte man sich im ORF-Hörfunk. Muehl nahm Anleihen bei Picasso und van Gogh, bei den Expressionisten und der Art Brut. In Erinnerung bleiben wird wohl am ehesten die aktionistische Zeit.

Bald nach seiner Haftentlassung übersiedelte Otto Muehl an die portugiesische Algarve, wo er mit einigen befreundeten Familien eine neue, aber bedeutend zahmere „Art & Life Family“-Kommune gründete. Der an Parkinson leidende Künstler und Aktionist hatte sich in den letzten Jahren bereits rar gemacht.

Für den Filmemacher Paul-Julien Robert war die schwierigste Szene die, „wo meine Mutter und mein Vater darüber reden, dass sie sich keine Schuldgefühle machen“, so der Künster in einem Interview mit der Tageszeitung Kurier: „Weil ich sie selbst nie nach Schuld gefragt habe, und weil ich ihnen keine Vorwürfe machen wollte. Aber dann fangen sie von sich aus plötzlich an, davon zu reden, was für mich fast unangenehm war, weil es sie ganz klar so stark beschäftigt – auch wenn sie sagen, sie machen sich keine Vorwürfe. Offensichtlich ist die Schuldfrage eben doch noch nicht ganz geklärt.“

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