Bengalen in London: Die Herrschaft des Lutfur Rahman
In einem Londoner Stadtteil hat eine Gruppe Bengalen die Macht übernommen. Kritiker werfen ihnen einen undemokratischen Regierungsstil vor.
LONDON taz | Die Brick Lane im Londoner Stadtteil Tower Hamlets ist heute vor allem bekannt für ihre vielen bengalischen Restaurants und als Ziel von Hipstern, die sich in den Hallen der alten Truman-Brauerei nach Klamotten umschauen. Dazwischen gibt es aber noch die kleinen Stoff- und Lederhändler, die Läden für Elektrogerümpel und die bengalischen Süßigkeitengeschäfte – wie jenes, in dem Samir Uddin auf Kundschaft wartet.
Die Geschäfte laufen schlecht, auch wenn der Bürgermeister des Stadtteils, Lutfur Rahman, ab und zu persönlich bei Uddin vorbeikommt und mit ihm Tee trinkt. Doch die Hoffnungen, die der Ladenbesitzer einst in den bengalischstämmigen Politiker setzte, sind tiefer Enttäuschung gewichen. Damit steht Uddin nicht allein da: Kaum ein Tag vergeht, an dem die Londoner Presse nicht von Skandalen des autokratisch agierenden Bürgermeisters und seines Stadtrats berichtet, an dem nicht von Nepotismus, Wahlfälschung oder Misswirtschaft die Rede ist.
Die Geschehnisse in Tower Hamlets sind ein Lehrstück dafür, wie Labour in einem traditionellen Arbeiterbezirk an der Aufgabe scheiterte, muslimische Migranten in die Politik zu integrieren. Ein Blick zurück in die Geschichte des Bezirks: Hierhin, östlich des Tower of London und der City, zogen seit Ende der sechziger Jahre Tausende Einwandererfamilien aus dem früheren Ost-Pakistan, das sich 1971 in einem blutigen Bürgerkrieg abspaltete und Bangladesch nannte. Die Brick Lane wurde zum Zentrum der größten bengalischen Gemeinde Großbritanniens, jeder Dritte hier hat bengalische Vorfahren.
Debatte: Die Ermordung eines britischen Soldaten durch Islamis- ten im Südostlondoner Stadtteil Woolwich am 22. Mai hat eine Debatte über den Umgang mit islamistischen Gruppen entfacht. Londons Oberbürgermeister Boris Johnson fordert, islamistische Organisationen in Hochschulen zu verbieten, weil sie immer öfter bei Studentenveranstaltungen Ge- schlechtertrennung durchsetzen.
Finanzierung: Viele islamische Gruppen in Großbritannien wer- den vom Staat mitfinanziert, in der Hoffnung, dass sie mäßigen- den Einfluss ausüben. Jetzt wird diskutiert, ob damit Staatsgelder an Islamisten gehen, unter anderem in dem Londoner Stadtteil Tower Hamlets.
Reaktion: Der Anschlag von Woolwich ist in Tower Hamlets auf Ablehnung gestoßen. Beim letzten Freitagsgebet in der East Lon- don Mosque sagte der Prediger, dieser Mord sei „gegen die islamische Religion und das Beispiel des Propheten“. Und: „Wir verurteilen ihn ohne Einschränkung“. (d.j.)
Die Moschee in der sogenannten „Banglatown“ diente zuvor bereits als Kirche und Synagoge. In früheren Zeiten stellten in dieser Gegend aus Frankreich geflüchtete Hugenotten ihre Webstühle auf; Iren siedelten sich an und bauten den Hafen und die Docklands; später kamen jüdische Zuwanderer; 2012 empfing der Stadtteil schließlich die ganze Welt zu den Olympischen Spielen.
Schrille, saftige Backwaren
Samir Uddins Vater kam Anfang der achtziger Jahre nach Tower Hamlets. Er eröffnete in der Brick Lane seinen hellbläulich schimmernden Laden, in dessen Theke sich schrille, saftige Backwaren aneinanderreihen.
Die Probleme, die Labour mit Tower Hamlets hat, sorgten bei den letzten Bürgermeisterwahlen 2010 für Schlagzeilen. Lutfur Rahman – damals noch Labour-Mitglied – hatte es sich in den Kopf gesetzt, als Kandidat für seine Partei ins Rennen zu gehen. Die nationale Labourführung weigerte sich jedoch, ihn zu nominieren, obwohl er die entsprechende örtliche Abstimmung gewonnen hatte. Der Grund: Kurz zuvor waren viele Bengalen der Partei beigetreten, die das Ergebnis zugunsten Rahmans kippten. Statt seiner installierte die Parteispitze lieber den ursprünglich favorisierten Kandidaten.
Rahman verließ daraufhin die Labour Party. Er sicherte sich die Unterstützung der größten Moschee Londons, der East London Mosque, Heimat des fundamentalistischen Netzwerks Islamic Forum of Europe (IFE). Und er gewann die lokalen Wahlen.
Gleichzeitig lief eine ganze Gruppe bengalischstämmiger Delegierter zu ihm über, die noch auf der Labour-Liste ins Stadtparlament eingezogen waren. Mit einem kurzfristig anberaumten Referendum im Schatten der britischen Parlamentswahlen erhielt der Posten des Bürgermeisters fast autokratische Befugnisse. Obwohl die Mehrheit der Abgeordneten im Stadtparlament Labour angehört, können der Bürgermeister und sein Magistrat nun an dieser nahezu entmachteten Versammlung vorbeiregieren.
Alle sind „unabhängig“
Seitdem herrscht Rahman über Tower Hamlets mit einem Magistrat, dessen Mitglieder allesamt entweder aus Bangladesch eingewandert sind oder deren Vorfahren von dort kamen. Keiner gehört mehr einer Partei an, alle sind „unabhängig“.
Auch Ladenbesitzer Samir Uddin hatte 2010 für Rahman als Bürgermeister gestimmt. „Ich habe gehofft, der tut was für uns“, sagt er. Sein Geschäft habe Hilfe gebrauchen können. Die City wächst und die Gentrifizierung treibt die Bengalen, seine Kundschaft, immer weiter in den Osten Londons, nach Newham. Falls die Stadt wie geplant die Gewerbesteuer erhöhe, müsse er dichtmachen, sagt er.
Der Bruch zwischen Teilen der bengalischen Gemeinde und dem politischen Establishment liegt allerdings schon länger zurück, mindestens zehn Jahre: Gehörte die erste Generation bengalischer Zuwanderer eher säkularen linken Strömungen an, begannen deren Kinder sich – vor allem nach den Anschlägen vom 11. September 2001 – zunehmend als Muslime zu verstehen. Das bestehende politische System hatte ihnen wenig zu bieten. Innerhalb der Labour Party vertiefte der damalige Premier Tony Blair diesen Bruch, indem er an der Seite von US-Präsident George W. Bush in den Irak einmarschierte.
Im Jahr 2005 verlor die Labour- Party den Parlamentssitz für den Stadtteil Tower Hamlets an eine neu gegründete linke Splitterpartei. Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis im Jahr 2010 die Gruppe um Lutfur Rahman ihre Chance in der Kommunalpolitik witterte.
Islamistische Gesellschaftsordnung
Eine Dokumentation des britischen TV-Senders Channel 4 zeigt, wie Rahman vom islamistischen Netzwerk IFE unterstützt wurde, das eine islamische Gesellschaftsordnung anstrebt. Seine Gegner wurden in Flugblättern, die von seinem Wahlkampfleiter stammten, als „Feinde des Islam“ diskreditiert – obwohl der Kandidat selbst bis dahin nur wenig religiös erschienen war.
Kritiker des Bürgermeisters werfen Lutfur Rahman vor, das Geld aus der Haushaltskasse nach Gutdünken fließen zu lassen, vor allem in die bengalische Community und in Richtung der Moschee. Beispiel: Knapp drei Millionen Pfund gibt der Stadtteil für religiöse Gebäude aus, aus weiteren Töpfen werden Jugendclubs in vorwiegend bengalischen Gegenden und Muttersprachkurse nur auf Bengalisch finanziert, obwohl es auch andere Minderheiten im Stadtteil gibt.
Nach drei Jahren Herrschaft Lutfur Rahmans hat sich für kleine Geschäftsleute wie Samir Uddin, die ihm einst ihre Stimme gaben, aber nichts verbessert. Zwar schaute der Bürgermeister persönlich vorbei, als im Sozialbau seiner kranken Eltern die Fenster kaputtgingen. „Im Teetrinken ist er ja gut, sonst aber für nichts“, sagt Uddin.
An Affären mangelt es dem Stadtteil nicht. Lady Uddin, eine – nicht mit ihm verwandte – bengalische Abgeordnete im Oberhaus aus Tower Hamlets, betrog das Parlament um 125.000 Pfund. Und bei den letzten Nachwahlen zum Parlament sollen in Tower Hamlets nicht nur Gefängnisinsassen – die in England kein Wahlrecht haben – ihre Stimme abgegeben haben, sondern auch Tote.
Unterstützer des Bürgermeisters hätten an den Haustüren Stimmzettel für die Briefwahl eingesammelt und selbst ausgefüllt, berichtete The Telegraph und listete zahlreiche Fälle einzeln auf. Die Wahlkommission ist inzwischen jedoch zu dem Schluss gekommen, es gebe nicht genügend Hinweise für einen Wahlbetrug.
Stimmen der Kritiker
Nicht nur auf der Brick Lane, auch im Rathaus mehren sich inzwischen die Stimmen der Kritiker. Eine neue politische Kultur sei mit Lutfur Rahman in das Rathaus eingezogen. Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Fraktionen gebe es nicht mehr, klagt der örtliche Labour-Vorsitzende Chris Weavers.
Der konservative Stadtrat Peter Golds, der aus einer jüdischen Familie aus Hamburg stammt, spricht von einer „Dorfpolitik mit einem Ältestenrat“. Die Stimmung im Rathaus sei für ihn, was das Nazi-Deutschland der Dreißiger für seine Eltern gewesen sei. Wenn sich der Abgeordnete, der sich offen als schwuler Politiker gibt, bei einer Sitzung zu Wort meldet, zische es ihm aus dem Publikum „Scheißschwuchtel“ entgegen. Das komme von islamistisch motivierten, homophoben Unterstützern des Bürgermeisters.
Ende 2014 geht Lutfur Rahmans erste Amtszeit zu Ende – „eine vierjährige Diktatur“, sagt Stadtrat Golds. Die Labour Party will nun die Bengalen wieder für sich gewinnen. Parteichef Ed Miliband hat für die Strategie, verprellte Labour-Anhänger zurückzuholen, beim vergangenen Parteitag schon einen Slogan ausgegeben: Labour sei jetzt die Partei der „One Nation“.
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