Kommentar Proteste in der Türkei: Nicht nur ein paar Bäume

Ist der Aufstand vom Istanbuler Gezi-Park so etwas wie das türkische Stuttgart 21? Parallelen zu ziehen liegt nahe, die Unterschiede sind aber deutlich.

Die Proteste treffen eine Regierung, die ihre Werte und den von ihr präferierten Lebenstil anderen Leuten aufzwingen will Bild: ap

Was geht da vor sich in Istanbul? Ein Aufstand, nur wegen ein paar Bäumen? Wegen eines Parks, der einer Shopping Mall weichen soll? Ist das also so etwas wie Stuttgart 21?

Nicht ganz. Die Proteste entzündeten sich tatsächlich an einem kleinen, überschaubaren Konflikt. Was aber die Massendemonstrationen auslöste, waren erstens die Brutalität, mit der die Polizei auf den Widerstand gegen das Bauprojekt reagierte, und zweitens der Frust, der sich aufgestaut hat – über eine autoritär agierende Regierung, und über das, was sie unter „Modernisierung“ versteht.

Natürlich ist Ministerpräsident Erdogan keine Diktator. Im Gegenteil: Er hat mit seiner AKP-Partei drei absolute Mehrheiten in Serie erzielt. Aber gerade diese unangefochtene Führungsrolle führte zu einer Arroganz der Macht. Die Regierung agiert zunehmend autoritär und mit aggressiver Rhetorik. Die konservativ-islamischen Machthaber mischen sich in das Leben der Leute ein, gerade eben wurden weitreichende Alkoholverbote erlassen.

Modernisierung mit der Dampframme

Ganze Stadtviertel werden platt gemacht - Modernisierung mit der Dampframme. Dabei wird das Lebendige der urbanen Zentren zerstört, und die Viertel, in denen das blüht, was die Frömmler den „dekadenten westlichen Lebensstil“ nennen, gleich mit – womöglich ein erwünschter Nebeneffekt.

Mit dieser Politik hat sich die Regierung in Gegnerschaft zu weiten Teilen der städtischen Bevölkerung gebracht. Ihr schlägt nicht mehr nur die Abneigung der Freaks und urbanen Kulturmilieus, der Bobos und Yuppies, entgegen. Sie ist auch moderaten Gläubigen, moderaten Konservativen und Liberalen, die natürlich auch längst die pluralen Lebensstile in den Städten genießen, fremd geworden. Die Proteste treffen eine Regierung, die ihre Werte und den von ihr präferierten Lebenstil anderen Leuten aufzwingen will.

Gewiss, auch bei Stuttgart 21 ist es nicht nur um Bäume und einen Bahnhof gegangen, sondern um Demokratie, um Partizipation und einen Regierungsstil, der einfach über die Bürger drüberfährt. Doch die Demonstranten in Istanbul wenden sich gegen den autoritären Stil von Erdogans machttrunkener und korrupt-wirtschaftsfreundlicher Kamarilla, die der Zivilgesellschaft die Luft abschnürt.

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Geboren 1966, lebt und arbeitet in Wien. Journalist, Sachbuchautor, Ausstellungskurator, Theatermacher, Universaldilettant. taz-Kolumnist am Wochenende ("Der rote Faden"), als loser Autor der taz schon irgendwie ein Urgestein. Schreibt seit 1992 immer wieder für das Blatt. Buchveröffentlichungen wie "Genial dagegen", "Marx für Eilige" usw. Jüngste Veröffentlichungen: "Liebe in Zeiten des Kapitalismus" (2018) und zuletzt "Herrschaft der Niedertracht" (2019). Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik 2009, Preis der John Maynard Keynes Gesellschaft für Wirtschaftspublizistik 2019.

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