Geschichte der Gesundheitsbewegung: Autonomie und Sterbehilfe

Der Medizinhistoriker Gerhard Baader hat die NS-Euthanasie erforscht. Die heutigen Debatten um Bioethik und Sterbehilfe sieht er als Gefahr.

Der Medizinhistoriker Gerhard Baader. Bild: Gabriele Goettle

„Nicht totmachen, bitte nicht totmachen!“ (Walter Jens, gest. 9. Juni 2013 im Alter von 90 Jahren, in seinen späten Tagen als Demenzkranker)

„Darf ich nach einem selbstbestimmten Leben nicht auch einen selbstbestimmten Tod haben, statt als ein dem Gespött preisgegebenes Etwas zu sterben, das nur von fernher an mich erinnert? Und dieses letzte Bild wird bleiben und überdauert, für die Nachfahren, auf lange Zeit die Impressionen aus Tagen, da ich ein ’Ich‘ und kein ’Es‘ war, ein denkendes Wesen und kein zuckendes Muskelpaket war.“ So Walter Jens 1995 in „Menschenwürdig sterben – Ein Plädoyer für Selbstverantwortung“. Und ein Plädoyer für die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe, von Walter Jens und dem Theologen Hans Küng (S. 125)

„Ich weiß genau, und es steht Wort für Wort in unserer Patientenverfügung formuliert, dass mein Mann so, wie er jetzt leben muss, niemals hat leben wollen. Sein Zustand ist schrecklicher als jede Vorstellung, die er sich wahrscheinlich irgendwann einmal ausgemalt hat (…) Genauso sicher, wie wir uns damals waren, dass wir beide so nicht leben wollten, weiß ich heute, dass mein Mann nicht sterben möchte.“ (Inge Jens in einem dpa-Interview)

Der Grad, auf dem man sich bei der Sterbehilfe-Debatte bewegt, ist schmal, die Abgründe schwindelerregend. Walter Jens und sein tragisches Schicksal machen die Widersprüche auf drastische Weise kenntlich. Auch die Widersprüche, die ihm entgangen sind, denn wer will, dass ein „zuckendes Muskelpaket“, ein „Es“, von seinem „menschenunwürdigen“ Dasein befreit wird, befindet sich bereits als Koch in Teufels Küche.

Der Medizinhistoriker Gerhard Baader hat sich mit der Problematik ausführlich befasst und sagt, es gibt nur eine Möglichkeit: gesamtgesellschaftliches Engagement.

Gerhard Baader, Medizinhistoriker, apl. Prof. am Friedrich-Meinecke-Institut (FMI) d. Freien Universität Berlin, Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften. Er besuchte Grundschule u. Gymnasium in Wien. Unfreiwilliger Abgang, 1942–1944 Zwangsarbeit, 1944–1945 Arbeitslager. 1946 Matura. 1948–1952 Studium d. klassischen Philologie, Germanistik, Linguistik u. Geschichtswissenschaft a. d. Universität zu Wien. Nach d. Promotion 1952, wissenschaftl. Mitarbeiter am Mittellateinischen Wörterbuch d. Bayr. Akademie d. Wissenschaften, 1954–1966. 1967 wissenschaftl. Assistent am Institut f. Medizingeschichte FU Berlin. 1979 Habilitation. Seit 1975 Lehrtätigkeit am Friedrich-Meinecke-Institut. Forschungsschwerpunkte: Geschichte d. Antike, d. Mittelalters u. d. Neuzeit. Seit 1980 Sozialgeschichte d. Medizin, insbesondere Geschichte d. Medizin im NS. 1982 Mitbegründer vom „Arbeitskreis zur Erforschung der Geschichte der NS-Euthanasie und Zwangssterilisation“. 1983 Ernennung z. außerordentl. Professor. 1993 trat er i. d. Ruhestand. Seitdem Visiting Prof. a. d. hebräischen Universität Jerusalem. Mitglied u. a. d. Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, der Israel Society for History of Medicine und der Société Internationale d’Histoire de la Médicine. Gerhard Baader wurde 1928 in Wien als Sohn eines Studienrats geboren, seine Mutter war Hausfrau. Er ist verwitwet, war dreimal verheiratet, hat drei Kinder.

Herr Baader wohnt im Hochhaus am Roseneck, vorletztes Stockwerk. Er führt uns ins große Wohnzimmer und bittet uns Platz zu nehmen an einem Tisch, der auf einer erhöhten hölzernen Ebene steht, so dass man im Sitzen noch weit über den Süden Berlins, über Grunewald und Dahlem schauen kann, oder auf eine gut gepflegte Blattpflanze, vielleicht ein Elefantenfuß. In den deckenhohen Bücherregalen steht vertraute Lektüre, auch die regenbogenfarbenen Bücherrücken der Edition Suhrkamp leuchten herzerwärmend und erinnern an eine schöne Zeit.

Wir bitten unseren Gastgeber, zuerst ein bisschen von sich zu erzählen: „Ich bin in Wien aufgewachsen, in Hietzing, und bin dann – um in der Sprache des Landes zu bleiben – in einer normalen Schule gewesen. Dort war ich natürlich in der Omega-Position, saß in der letzten Bank und der Klassenführer vom Jungvolk hat mich entsprechend behandelt, das ging bis zu körperlichen Bedrohungen. Dazu war ich auch noch blond, habe überhaupt nicht ins Schema gepasst, trotzdem wurden an mir Demonstrationen vorgenommen im Biologieunterricht. Wir sind nach ’38, im Zuge der Vertreibung der Juden aus Hietzing, gleich delogiert worden. Wir wohnten im Gemeindebau, und mein Vater wusste nicht wohin, und dann fanden wir aber im letzten Moment, bevor wir auf der Straße saßen, eine Wohnung in der Leopoldstadt, da war grade einer nach Schanghai emigriert. Dieses Haus ist später ein „Judenhaus“ geworden, also schon eine Art Sammellager. Jede gottgegebene Nacht musste man mit Gestapo und jüdischen Ordnern rechnen … Und nach den ersten vier Jahren Gymnasium – die ich durchleiden musste, in denen ich aber auch so eine Art Grundhandwerkszeug bekommen habe – mussten jüdische Schüler die weiterbildenden Schulen verlassen. Ich bin als Hilfsarbeiter in die Zwangsarbeit gegangen. Es war sogar ein Glücksfall, denn damals war ja alles Rüstung. Ich kam in ein ganz normales Installationsunternehmen – Karisch & Co. in Hernals, Heizung, Lüftung, Sanitär. Der Prokurist war Ortsgruppenleiter, aber kein unanständiger Mensch.

Solidarität auf dem Bau

Ich bin nach einer Weile dort weggegangen, habe sogar einen Schweißkurs bei der Deutschen Arbeitsfront gemacht und bin dann auf den Bau raus. Dort habe ich wieder aufzuleben begonnen. Meine soziale Isolation hat auf dem Bau aufgehört, da gab es Solidarität beim Zusammenarbeiten. Und eine weitere Absurdität war, ich bin aufgewachsen in einer sozialdemokratisch orientierten Familie mit einem militanten politischen Antiklerikalismus. Wir hätten der Kirche nicht ferner sein können, trotzdem war es der Kaplan, der eines Tages zu meinem Vater kam, der die Tore für uns weit geöffnet hat, ohne zu fragen. Der sogar Juden versteckt hat, obwohl nah dran die Nazis saßen. Und auch da habe ich ein soziales Umfeld bekommen. Der ist nach ’45 übrigens Domprobst geworden. Ich war jedenfalls viel weniger isoliert als in der Schule, habe gearbeitet und zu Hause gewohnt, habe mein Essen gehabt und alles. Was wir bezahlt bekamen, das war absolut lächerlich. Und da kam dann natürlich auch die Frage auf: Weggehen? Aber das ist leichter gesagt als getan ohne Geld. Zum Schluss wäre nur eine einzige Möglichkeit gewesen: Die Mutter als Dienstmädchen nach England und ich in irgendeine Familie, und der Vater – der ja ’Arier‘ war – bleibt zurück. Dann fiel die Entscheidung aber anders: Die Familie bleibt zusammen, und sie bleibt in Wien. Das hätte schiefgehen können. Ist auch schiefgegangen, für den Vater, er war im Arbeitslager, zu Schanzarbeiten an der heutigen ungarischen Grenze, und ist nur zum Sterben zurückgekommen. Ich war dann auch in so einem Arbeitslager, auch zu Schanzarbeiten, Erdarbeiten, Sprengarbeiten. Die Truppführer waren entweder schwere Nazis, kriegsversehrte Offiziere oder Schwerkriminelle. Meine Großmutter hat immer gesagt: ’Es soll nie so schlecht werden, als dass man sich nicht dran gewöhnen könnt!‘

Ich bin nach ’45 wieder in meine alte Schulklasse zurückgegangen. Das war ein Fehler. Ich kam aus dem Arbeitslager, und die anderen kamen von der Heimatflak, und unsere Lehrer, die, die früher mit der Bletschn rumglaufen sind – dem Parteiabzeichen –, die waren auch wieder da. Man hat für uns dann – nur für die ’Politischen‘ und die ’rassisch Verfolgten‘ – Überbrückungskurse eingerichtet, und da konnten wir die Matura nachmachen. Bei mir hat es ein Jahr gedauert, und ich war fertig, habe studiert in Wien. Nebenbei waren wir in unseren Organisationen, ’Sozialistische Jugend‘, ’Sozialistischen Studenten‘ oder die akademische Gruppe der ’Naturfreunde‘, das war unsere Welt gewissermaßen, das hat mich bestimmt, bis zu meinem Weggang aus Wien. Ich bin nie aus der Partei raus, habe die Mitgliedschaft aber lange Zeit sehr ruhen lassen, auch hier in Berlin noch. Dann kam die ’Arbeitsgemeinschaft jüdischer Sozialdemokraten‘ 2007, und über die bin ich dann hier in Schmargendorf in die Abteilung gekommen. Nette Leut dort, mehr kann ich nicht sagen.

Der Durchbruch 67/68

Aber zurück! ’52 war ich vorübergehend in Israel in einem Kibbuz. In einem linken, um zu lernen, wie man den Sozialismus richtig aufbaut.“ Er lacht selbstironisch. „Es gab damals die Möglichkeit dort zu bleiben, aber es wäre nichts anderes infrage gekommen als Kibbuz und Armee. Ich habe mich deshalb zur Rückkehr nach Österreich entschieden. Später war ich noch oft dort, besuchsweise. 1954 bin ich dann nach Deutschland gekommen. Zuerst war ich in Bayern. Und wer das nicht erlebt hat, der kann sich gar nicht vorstellen, was für eine muffige Atmosphäre wir in den 50er Jahren mit den alten und neuen Nazis hatten. Wir haben angefangen, uns mit dem Faschismus zu beschäftigen, haben Kogon, Mitscherlich, Mielke gelesen und die Werke der Frankfurter Schule weitgehend noch im englischen Original. Es gab diesen starken inneren Widerstand. Der Durchbruch kam dann aber erst 67/68. Politisch aktiv geworden bin ich zum ersten Mal in Deutschland bei der Spiegel-Affäre, das war ’62. Und ’67 bin ich dann nach Berlin gegangen ans Institut für Medizingeschichte. Damals ist die ’Kritische Universität‘ von den Studenten ins Leben gerufen worden, als Gegenuniversität quasi, da gab es eine Arbeitsgemeinschaft, die hieß ’Medizin ohne Menschlichkeit‘, an Mitscherlich sich orientierend. Die Genossen von der Medizin kamen, und das fand dann bei uns im Institut statt. Damals mussten wir uns eingestehen, dass wir in der Faschismustheorie ziemlich blank sind, und das haben wir dann allmählich geändert. Ich selbst habe eine Arbeitsgemeinschaft angeboten, eine Lehrveranstaltung zu sozialwissenschaftlichen Fragestellungen in der Wissenschaftsgeschichte, wir haben angefangen mit der Geschichte des deutschen Gesundheitswesens, der Frühgeschichte der pharmazeutischen Industrie – da war dann die ganze ’Rote Zelle-Pharmazeutische Industrie‘ da.

Dann kamen Genossen, das war denn schon in den 70er Jahren, die sagten, wir wollen Psychiatrie machen. Sie waren natürlich alle in der Antipsychiatrie-Bewegung. Jedenfalls haben wir angefangen und zuerst den Klaus Dörner hergenommen, sein Buch ’Bürger und Irre‘, und dann Güse und Schmacke, ’Psychiatrie zwischen bürgerlicher Revolution und Faschismus‘. Da hatte ich dann die ersten Dissertanten mit psychiatrie-historischen kritischen Themen zu betreuen. Wichtig war dann auch das medizinkritische Buch von Ivan Illich, 1975 ’Die Enteignung der Gesundheit‘ – es erschien später in den 80er Jahren unter dem Titel ’Die Nemesis der Medizin‘. Bei all dem – Sie bemerken es schon, war bei uns die ’Medizin im Nationalsozialismus‘ immer noch so ein bisschen an den Rand geraten. Es musste erst das Jahr 1980 kommen. Da war der Deutsche Ärztetag in Berlin. Der Präsident des Ärztetags ist immer der Präsident der lokalen Ärztekammer, und das war damals ein Chirurg namens Heim, den wir nur mit dem Spruch ’Heim ins Reich‘ tituliert haben. Er war SS-Arzt. Wir waren der Meinung, das kann man nicht unkommentiert lassen, und haben uns im Schwarzen Café in der Kantstraße dann hingesetzt und begonnen, was Vernünftiges zu organisieren. Es gab den ’Gesundheitsladen‘ – der dann im Mehringhof gewesen ist. War als erster Gesundheitsladen der BRD im Sommer ’78 in Berlin gegründet worden, hatte sein eigenes Büro, Rundbriefe, es gab eine Zeitung, alles! Und über den Gesundheitsladen wurde dann von uns das Projekt ’Gesundheitstag‘ entwickelt, als Gegenveranstaltung zum offiziellen 83. Deutschen Ärztetag. Ellis Huber – der spätere langjährige Ärztekammerpräsident – war da sehr engagiert. Unser Gesundheitstag hatte einen Themenschwerpunkt fürs Forum: ’Medizin im Nationalsozialismus: Tabuisierte Vergangenheit – ungebrochene Tradition?‘

Der Aufruf des Berliner Gesundheitsladens damals war ein enormer Erfolg. Zum ersten Mal nach dem Krieg wurde das Thema Medizin und Nationalsozialismus in einer so großen öffentlichen Veranstaltung von Ärzten, Medizinstudenten und Pflegepersonal diskutiert. Es kamen über 10.000 Teilnehmer, mehr als 300 Seminare und Vorträge füllten das Programm der insgesamt fünf Gesundheitstage, vom 14. bis 18. Mai. Basaglia war da – er ist wenige Monate danach gestorben. Dörner war da, Jungk und andere, überall war Gedränge, waren Diskussionen und immenses Interesse. Ich habe dann, zusammen mit Ulrich Schultz unter dem Titel ’Medizin und Nationalsozialismus. Tabuisierte Vergangenheit – Ungebrochene Tradition?‘ eine Dokumentation des Gesundheitstags herausgegeben. Ich hatte noch bei der Planung darauf bestanden, bei diesem Slogan das Fragezeichen hinten zu setzen. Heute, nach 33 Jahren Arbeit zu diesem Thema, können wir eines mit Gewissheit machen: Das Fragezeichen wegstreichen!

Medizinische Fachsprache

Wir sind zu der bitteren Erkenntnis gekommen, dass Grundpositionen, mit denen wir ’Medizin im NS‘ und ’Medizin heute‘ sehen, uns eine Medizin zwischen Heilen und Vernichten zeigen. Und da gibt es Traditionen, die viel älter sind als die Medizin im NS. Also müssen wir uns die Medizin anschauen, nicht nur im Blick auf die ’Euthanasie‘, die Zwangssterilisation, auf Menschenversuche usw., sondern im Blick auf ihre Gesamtheit. Das ist die Realität. Aber wir müssen natürlich immer wieder zurückkommen auf die Geschichte der Medizin im NS. Und da machen wir auch immer weiter, z. B. mit dem Arbeitskreis ’Arbeitskreis zur Erforschung der Geschichte der NS-Euthanasie und Zwangssterilisation‘. 1982 hatte Dörner alle zusammengerufen, von denen er meinte, dass sie sich speziell dafür interessieren könnten, also Ärzte, Pflegekräfte, Psychologen, Theologen, Juristen, Medizinhistorikern usf. Dieser interdisziplinäre Arbeitskreis stand von vornherein auf zwei Ebenen: Der Ebene der Erforschung zum einen – denn junge Ärzte der ’Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie‘ sind als Oberärzte oder ärztliche Direktoren aufgerückt und hatten auf einmal das ganze Aktenmaterial zu ihrer Verfügung in den Anstalten, dessen Existenz ja immer geleugnet worden war. Damit hat man anfangen können, zu arbeiten.

Und die zweite Ebene war die medizinethische Ebene, auch die Fragen zur eigenen praktischen Arbeit mit den Patienten. Wir treffen uns zweimal jährlich, meistens von entsprechenden Institutionen eingeladen. Nächste Woche wieder in Stralsund. Man kann ruhig sagen, seit 1980 bin ich in dem gesamten kritisch-medizinischen Diskurs drin. Vom ersten bis zum letzten Tag. Und das hatte natürlich auch Auswirkungen auf die ärztliche Ausbildung. Ich wollte immer hinaus auf eine andere, eine neue Medizin, und die kann nur von jungen Medizinern umgesetzt und angewandt werden. Ich habe z. B. auch einen Terminologiekurs eingeführt, der war Pflichtveranstaltung in der ärztlichen Ausbildung. Man kann ja mit medizinischer Fachsprache manipulieren und alles machen. Die Sprache als Herrschaftsinstrument, das waren so die Dinge, die wir neben dem Lateinpauken gemacht haben.

Gefahr: heutige Bioethik

Und das möchte ich noch sagen, es gibt die ’Grafenecker Erklärung‘, das ist unsere Erklärung. Im Oktober 1995 kam unser ’Arbeitskreis zur Erforschung der Euthanasie-Geschichte‘ in Schloss Grafeneck zusammen, und wir diskutierten über die Gefahren der heutigen Bioethik. Daraus ist die Grafenecker Erklärung hervorgegangen. Können sie im Internet lesen auf der Seite des Arbeitskreises (Schloss Grafeneck auf der Schwäbischen Alb war die erste Tötungsanstalt für die „T4-Aktion“ zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, auch als „Aktion Gnadentod“ bezeichnet. Es war zugleich die Zentralstelle der „Gemeinnützigen Krankentransport GmbH“, einem Busunternehmen zum diskreten Antransport der Behinderten und psychisch Kranken in grauen Bussen mit blinden Scheiben. Im Jahr 1940 wurden dort mehr als 10.000 Hilfsbedürftige von Ärzten ermordet. Anm. G. G.)

„In der Erklärung haben wir auch die geplante Bioethik-Deklaration der Unesco sowie die ’Menschenrechtskonvention zur Biomedizin‘ vom Europarat scharf kritisiert. Es geht um das, was wichtig ist, auch um die Auseinandersetzung mit der Präimplantationsdiagnostik und um solche Dinge. Das ist genau das, was wir in der Gesundheitsbewegung seit 1980 versuchen zu tun. An der Geschichte lernen, Stück für Stück. Wir haben auch mal eine themengebundene Zeitschrift geschaffen: Forum für Medizin und Gesundheitspolitik. Sie war angesiedelt zwischen den Zeitschriften Argument und Dr. Mabuse, einige Hefte sind erschienen, wir haben uns selber ausgebeutet, aber dann war es nicht mehr zu finanzieren, unser letztes Heft war ’Ausländer und Medizin‘. Ich bin dann in die Mabuse-Redaktion gegangen. Und das sind eigentlich die Zusammenhänge, in denen ich – der ich ja kein Mediziner bin, mein Rüstzeug bekommen habe.

Und jetzt komme ich zum Thema Sterbehilfe. Es ist besonders wichtig, denn wir haben eine Gesellschaft, die erstens älter wird und zweitens durch ein spezielles Krankheitsbild bedroht wird – aus welchen Gründen auch immer –, das ist die Demenz mit dem Extremfall Alzheimer. Auf Grund unserer Familien- und Gesellschaftsstruktur ist es ganz klar, dass die Pflege dieser Kranken weitgehend in Heimen stattfinden wird. In quasi privat geführten Heimen. Da hat ein gewaltiger Umschlag stattgefunden bei der Bevorzugung privater oder privatrechtlicher Initiativen vor öffentlichen Initiativen. Und auch die großen Wohlfahrtsverbände haben sich sehr verändert seit den 60er Jahren – sogar die Arbeiterwohlfahrt, die mal eine Art Begleitorganisation war für soziale Notfälle – sie sind quasi zu Konzernen geworden, und nun konkurrieren sie auch noch gegen die rein gewinnorientierten Gesundheitskonzerne. Also der Kommerzialisierung sind Tür und Tor aufgerissen worden. Der Kommerzialisierung von allem.

Und mittendrin haben wir eine Debatte über das ’Recht auf den eigenen Tod‘, wobei in medizinethischer Sicht jetzt etwas zum entscheidenden Kriterium gemacht wird, die Autonomie. Das ist im Prinzip ja etwas Wunderbares, besser könnten wir es uns gar nicht vorstellen, aber angesichts einer Situation, wie wir sie jetzt mit den Heimen und folglich auch in den Heimen haben, kann dieses Prinzip sich natürlich nicht durchsetzen. In den Heimen regiert nicht nur die Kommerzialisierung, sondern auch der Kostendruck, dem sich alle beugen müssen. Und mitten in so einem immer schärfer eingreifenden Einspar- und Rationalisierungssystem wird sog. Selbstbestimmung nachgefragt und von einem ’Recht auf den eignen Tod‘ gesprochen.

Eugenik und Autonomie

Da müssen wir uns dann fragen, welche Eugenik haben wir eigentlich heute? Wir haben nicht die Rasseneugenik der 20er Jahre oder die ’Rassenhygiene‘ des NS. Wir haben eine Eugenik in Form einer scheinautonomen Nachfrage! Eine, die sich im Wunsch nach einem selbst wählbaren Tod äußert. Aber diese Nachfrage wird produziert durch die Missstände einer kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, durch die Unfähigkeit, mit den Folgen fertig zu werden. Wir haben hier das Problem einer ’fehlgeleiteten Autonomie‘.

Zur Verdeutlichung dessen, was mit ’fehlgeleiteter Autonomie‘ gemeint ist, ein Beispiel: Sowohl beim genetischen Screening als auch bei der ’Präimplantationsdiagnostik‘ ist uns versprochen worden, das wären Methoden, die nur in einem kleinen, beschreibbaren Raum für absolute Ausnahmefälle notwenig und sinnvoll sind. Wir sind bei der PID noch nicht so weit, aber ich kann ihnen Gift darauf geben, dass es bald zur Routine gehören wird. Und zwar nicht deshalb, weil zuerst eine Nachfrage da war, sondern weil die Methoden in interessengeleiteten Diskussionen den Leuten aufgedrängt wurden, und es in ’fehlgeleiteter Autonomie‘ zu einer ’Nachfrage‘ gekommen ist. Die Produktion solcher ’Nachfragen‘ ist rein ökonomisch bedingt und gesteuert von der Pharmaindustrie. Und das ist es, was wir in allen Bereichen haben. Ich möchte sagen, die Präimplantationsdiagnostik, das genetische Screening, alles, womit wir uns rumgeschlagen haben in den letzten Jahren, das ist übergegangen in die Sterbehilfedebatte. Im Moment sind wir mittendrin. In einer Debatte, die definiert wird, als ausgehend vom ’autonomen Individuum‘. Das ist genau die Debatte, die uns heute wieder aufgezwungen wird. Das ist das ganz, ganz Gefährliche daran! Da sagen wir Nein!

Diese Debatten ziehen sich schon über viele Jahre hin. Wir hatten die Singer-Debatte über die ’Praktische Ethik‘ dieses australischen Euthanasiebefürworters, der Menschenrechte und Menschenwürde und letztlich ein Lebensrecht nur solchen Menschen zugesteht, die über ein Bewusstsein verfügen. Wir haben es sogar geschafft, seine Auftritte an den Universitäten zu verhindern. Das war die Zeit, wo ich nur auf Podien gesessen habe, zusammen mit Betroffenen. Ich habe gesagt: Ich diskutiere nicht ’über‘ Behinderte, ich diskutiere ’mit‘ Behinderten. Irgendwann dachten wir, die Debatte ist vorbei, es hat sich erledigt. Aber sie hat dann ’98 wieder begonnen mit ’Dignitas‘, der Schweizer Sterbehilfe. Das beginnt ja immer schleichend, Suizid, begleiteter Suizid, passive Sterbehilfe usw. Die Forderung nach einer humaneren Medizin stößt auf eine Grenzzone. Und die wird überschritten in dem Augenblick, wo ich ’begleitenden Suizid‘ kommerzialisiere. Wenn Institutionen wie die ’Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben‘ hier gegen Geld Mittel zur Selbsttötung bereitstellt und meint, auf der Basis einer sogenannten Autonomie gesellschaftliche Positionen besetzen zu müssen, dann sind wir aufgerufen, auf der anderen Seite zu stehen!“ (Dignitas verlangt neben einer einmaligen Aufnahmegebühr und einem Mitgliedsbeitrag von seinen Mitgliedern für die Vorbereitung und Durchführung einer sog. Freitodbegleitung einen „Sondermitgliedsbeitrag“ von 6.000 Schweizer Franken. Ausländer bekommen den Service, inkl. Arzt und Kremation, für etwa 8.600 Schweizer Franken. Anm. G. G.)

Jemanden gehen lassen

„Dabei gibt es Alternativen! Verantwortungsvolle Begleitung beim Sterben heißt auch, dass ich jemanden „gehen lasse“, dass ich nicht alles medizinisch Mögliche ausschöpfe. Und es gibt eine Medizin, die ganz bewusst unterentwickelt gehalten wird, das ist die Palliativmedizin, die Schmerztherapie. Sie ist auch so etwas, was in Deutschland weitgehend unterentwickelt ist. In den Staaten ist eine gute Schmerztherapie gang und gäbe. Palliativmedizin erfordert allerdings mehr Geld und Personal, Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter und Pflegekräfte, die vor allem eines haben, nämlich Zeit für ihre Patienten. Aber das Problem ist, da ist kein großes Geschäft zu machen. Das meiste Geld in der Medizin bringt die apparative Medizin, die operativen Fächer und die Transplantationsmedizin. Es geht nicht um das Patientenwohl, sondern um die – sprechen wir es ruhig aus – Kapitalinteressen einer unserer größten Industrien, nämlich der Medizinindustrie. Sicher, ich kann den lobbyverstärkten großen Einfluss der Medizinindustrie, der Pharmaindustrie auf die Gesetzgebung beklagen usw. Das hilft mir aber nicht weiter. Wir haben gesehen, wir können den Kapitalismus nicht aus den Angeln heben, aber was wir können, müssen wir tun. Schritt für Schritt. Wir müssen diese Alternativen einfordern. Es geht um Kernfragen des menschlichen Daseins, deshalb muss es uns gelingen, die Palliativmedizin und Pflege voranzutreiben und die Hospizbewegung auszubauen. Wir müssen Gegenkräfte entwickeln und uns zivilgesellschaftlich organisieren.

Ein wichtiger Punkt, über den wir noch nicht gesprochen haben, ist die Selbstbestimmung. Ist die Möglichkeit, eine Verfügung zu treffen für den Fall, dass ich eines Tages nicht mehr handlungsfähig bin und vielleicht nicht mehr entscheidungsfähig, damit uns kein amtlich bestimmter Pfleger übernimmt. Dieses Bedürfnis nach Selbstbestimmung konnte lange Zeit nur sehr unzureichend befriedigt werden. Es gab die ’Patiententestamente‘, da hat sich bald gezeigt, dass die zu ungenau sind. Dass der eigene Wille des Patienten kaum wahrnehmbar gewesen ist. Und das letztlich hat – auch wegen der Rechtsunsicherheit der Ärzte – dazu geführt, zu sagen: Wir brauchen jetzt was Festes. Und das ist dann gekommen durch die gesetzliche Regelung und die Patientenverfügung. Das war ein gewaltiger Schritt vorwärts. Und hier haben wir endlich eine sinnvolle Autonomie und nicht eine fehlgeleitete. In der Patientenverfügung kann ich genau sagen, wo die Grenzen für mich sind, wo ich medizinische Hilfe haben möchte und wo nicht. Es ist natürlich nicht möglich, aktive Sterbehilfe zu verlangen, sondern es sind die Eingrenzungen gegenüber einer übertechnisierten Medizin, die man für sich bestimmt.

Ich könnte mich ja zurücklehnen, bin Mitglied in einer liberalen jüdischen Gemeinde. Im jüdischen Glauben ist es so, dass kein Fünkchen Leben verkürzt werden darf, zusätzlich ist es so, dass der im Sterbeprozess Befindliche nicht berührt werden darf, drittens darf aus seinem Tod kein Gewinn gezogen werden … und die Grabstatt ist für immer! Aber natürlich habe ich selber auch so eine Patientenverfügung gemacht, mit ganz klaren Eingrenzungen, beispielsweise: keine Maschinen, keine Chemotherapie, keine künstliche Ernährung, keine Magensonde, keinen Dauerkatheter. Aber eine ordentliche Schmerzbehandlung! Von den Ärztekammern gibt es Blöcke, Bausteine, die du individuell zusammenfügen kannst. Das ist recht praktisch. Und da gibt’s einen Baustein, den ich verweigert habe. Nämlich den, dass ich – auch wenn eine Patientenverfügung da ist – im letzten Moment, wo ich nicht mehr direkt ansprechbar bin, durch irgendeine, von den anderen zu verstehende Willensäußerung, meine Verfügungen widerrufen kann.

Nicht aufgeben

Über eines müssen wir uns klar sein. Selbst unter den katastrophalen generellen Verhältnissen, in denen sich diese Gesellschaft befindet, dürfen wir nicht aufgeben und müssen an den Baustellen weiterarbeiten. Das ist das A und O in einer demokratischen Gesellschaft, gemeinsam Strukturen zu schaffen, die wir unbedingt brauchen. Schaut’s euch die Heime an, die defizitären Hospize …“

Lange Pause. „Am Ende steht immer die Frage nach einem menschenwürdigen Tod. Der Gedanke an den eigenen Tod produziert zwar Ängste, zwangsläufig, aber durch Verdrängen erledigen sich die Bedingungen, unter denen wir derzeit sterben müssen, nicht. Die können nur wir gemeinsam ändern!“

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