Die Wahrheit: Zum Glück gibt's räumliche Distanz
Als Anfang Oktober ein Kutter mit über 500 Migranten vor Lampedusa sank und fast 400 von ihnen ertranken, schaltete ich mehr als sieben Jahre zurück.
E s gibt so Tage, da schwankt das Spektrum der Selbstbilder zwischen Besserwisser, Angeber und Wichtigtuer. Kürzlich schlug das Trio zu. Als Anfang Oktober ein Kutter mit über 500 Migranten aus Afrika vor der Insel Lampedusa sank und fast vierhundert von ihnen ertranken, schaltete das Ego mehr als sieben Jahre zurück.
Ende Februar 2006 schilderte ich hier einen Protagonisten namens Konrad, der Urlaubsreisen ablehnt: „Und das Mittelmeer kam ohnehin nicht in Frage. Am Strand liegend würde er sich die Seelenverkäufer jenseits des Horizonts vorstellen, die arme Hunde in die Festung Europa schleusen. Und täglich gehe mindestens einer über Bord. Also, ein Unbehagen gegenüber dieser Parallelität beschlich manche längst. Es hatte sich herumgesprochen, dass „wir“ das Mittelmeer, wie der maltesische Ministerpräsident Muscat meinte, „zum Friedhof“ machen. Nicht nur direkt das Mittelmeer, logisch. Bei den Kanaren ist es nicht anders.
Zurück zu Konrad und seiner Anmerkung, er stelle sich die Pötte „jenseits des Horizonts“ vor. Da lag er falsch. Die Kähne schippern mitunter in Sichtweite, landen oder stranden, während ein Tourist im Liegestuhl darüber nachsinnt, wie das All-inclusive-Bändchen im Hotel gründlicher zu nutzen sei. Ist sein gutes Recht, sagt er, hat er für bezahlt. Der Typ dürfte es begrüßen, wenn Frontex, die „europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen“, engmaschiger zuschlägt. Opfer geraten aus den Augen, aus dem Sinn; der Urlaub wird weniger gestört.
Wie kindisch Konrads Konsequenz ist, Ferien dieser Art zu unterlassen, mag ich nicht beurteilen. Muss er das mulmige Gefühl ummünzen und sich in einer Initiative gegen die Flüchtlingspolitik engagieren? Eingedenk Karl Valentins Weisheit „Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen“ umschwenken zur direkten Aktion? Ich werde ihn mal fragen.
Bei mir wiederum blieb eines der bizarr anmutenden Details der Aktualitäten hängen. Seit 2012 verfolgt die EU ein „Forschungsprojekt“, das „autonome Landroboter mit Überwachungskameras“ entwickelt, die Menschen, Fahrzeuge und „gefährliche Substanzen“ aufspüren. Auf der Netzseite des Projekts stammen die aktuellsten „News“ von November 2012.
Vor drei Wochen packt Spiegel TV einen Dreiminüter darüber in eine boulevardeske Schlagzeile: „Hightech-Monster gegen Flüchtlinge“. Ab und zu blickt man nicht durch, nicht nur hier. Worüber redet man, wenn man über die Vielfalt an Konstellationen redet? Zum Beispiel: Im Laufe von Jahrhunderten sind jede Menge Europäer ausgewandert oder haben kolonisiert. Aber jetzt möglichst niemanden hier reinlassen, hm?
Da blitzt ein Lied von Funny van Dannen auf. „Räumliche Distanz“ heißt es. Während du verliebt bist, sind andere völlig verzweifelt, singt er, und während du verwöhnt bist, werden andere von Bomben zerfetzt: „Das hört sich schlimm an, ist es aber nicht ganz / Denn zum Glück gibt es ja die räumliche Distanz“. Wie stets im Werk dieses großen Dichters und Sängers: Da ist was dran.
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