Syrische Flüchtlinge im Libanon: Kalte Zuflucht

Eine Million Syrer sind vor dem Bürgerkrieg ins Nachbarland Libanon geflohen. Sie sind auf sich gestellt. Denn das Land erlaubt keine Flüchtlingslager.

Syrische Flüchtlinge unterwegs in einer libanesischen Grenzstadt. Eine zentrale Anlaufstelle gibt es für sie nicht. Bild: reuters

MARIDSCH taz | Wenn es Abend wird und die Kälte durch die Ritzen ins Zelt kriecht, kuscheln sich die vier Kinder ganz eng aneinander zwischen die Eltern. Fünf Decken reichen nicht für sechs Menschen. Aber es hilft, wenn man sie aufeinanderlegt und über alle ausbreitet. „Trotzdem wache ich oft auf in der Nacht, es ist so kalt“, sagt die zehnjährige Amani. „Ich will nach Hause.“ Ihr Vater umarmt sie wortlos.

Es ist erst Herbst, die schlimmsten Monate stehen den syrischen Flüchtlingen in Libanon noch bevor. In Maridsch, einer kleinen Ortschaft nicht weit von der syrischen Grenze, wird es im Winter bitterkalt. Bis auf null Grad sinken die Temperaturen, manchmal auch darunter. Dazu starke, stürmische Regenfälle, die oft tagelang anhalten.

Die Familie von Amina hat im Zelt einen kleinen Ofen zum Heizen, aber kein Geld für den Treibstoff. Ahmed Nazir Darwisch, Aminas Vater, kann nicht arbeiten, nicht einmal einen kleinen Tagelöhnerjob übernehmen, denn jede Anstrengung fällt ihm schwer. Der 36-Jährige krempelt seine Hose hoch. Das Bein ist übersät mit Schrapnellwunden. Ein weiteres Stück steckt in der Leiste fest, nahe der Hauptschlagader. Nur ein Spezialist könnte es operativ entfernen – zu kostspielig.

Keine zentrale Anlaufstelle

Es war ein heißer Sommertag, und Darwisch freute sich, dass er in der syrischen Hauptstadt Damaskus eine Anstellung in einem kleinen Laden gefunden hatte. Er stammt aus der Region Ghouta, in der auch Giftgas eingesetzt worden ist. Mit seiner Frau und den vier Kindern zwischen 2 und 13 Jahren war er nach Damaskus geflohen, weil er geglaubt hatte, dort sei es sicherer. Mit seinem neuen Chef fuhr er zum Großmarkt, um Ware einzukaufen. Darwisch weiß nicht, ob es Granaten waren oder andere Geschosse, er hat nur das viele Blut gesehen und versucht, sich zu retten. „Danach mussten wir einfach weg, wir können dort nicht leben“, sagt er. „Wir sind mit nichts nach Libanon geflohen.“

Wer mit nichts kommt, hat es schwer in Libanon. Es gibt nahe der Grenze keine zentrale Anlaufstelle oder Unterbringung. Die Libanesen lehnen es vehement ab, neue Flüchtlingslager zu errichten. Denn die meisten Palästinenser, die vor über 60 Jahren kamen, leben bis heute in den Camps und wurden zu einem Staat im Staate. Viele Libanesen geben ihnen die Hauptschuld an Libanons langem und blutigem Bürgerkrieg.

„Der Nachteil ist, dass es so schwieriger ist, den Flüchtlingen gezielt Hilfe zu bringen“, sagt Bente Scheller, Leiterin des Regionalbüros der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut. „Aber es hat auch den großen Vorteil, dass niemand verpflichtet ist, an einen bestimmten Ort zu gehen.“ Flüchtlingslager sind oft wie Gefängnisse, mit eigenen Regeln, Schmugglern und mafiösen Strukturen.

Kleine „Ansammlungen“

Im Bekaa-Tal entlang der Grenze leben viele Flüchtlinge, die kein Geld haben, um sich in einem Haus, einer Wohnung oder wenigstens in einer Garage oder einem Rohbau einzumieten, in sogenannten Ansammlungen von Zelten. Diese inoffiziellen kleinen Lager stehen auf privatem Grund. Meistens vermieten Bauern ein brachliegendes Feld oder Unternehmer ein Stück Land im Industriegebiet.

Die Familie Darwisch hatte noch Glück. Sie lebt in einer kleinen „Ansammlung“ am Rande von Maridsch, die mit Geld aus Saudi-Arabien unterstützt wird. Etwa 50 Zelte auf einer staubigen Fläche, die aussieht wie ein Lkw-Parkplatz. Auf der einen Seite blicken die Flüchtlinge auf eine Betonwand, auf der anderen ist eine Hügelkette zu sehen – dort ist die syrische Heimat.

In einem Waschraum aus nacktem Beton spülen ein paar kleine Mädchen Geschirr und Teegläser ab. Ihre Hände sind vom kalten Wasser rot. Draußen spielen die beiden Brüder Abdullah und Mohammed, fünf und sechs Jahre alt, mit Maschinengewehren aus Plastik. Mohammed hat verfaulte Milchzähne und einen wirren Blick. Er spricht nicht gern und schießt lieber. „Wir greifen das Regime an!“, ruft sein Bruder, und sie flitzen zwischen den Zelten umher.

Saudis zahlen weniger

Den Stellplatz müssen die Flüchtlinge nicht bezahlen, auch nicht das Wasser und den Strom. Aber das ist auch schon alles, was hier umsonst ist. Die Zelte sind so morsch, dass sie den Wintereinbruch nicht überstehen werden. Es gibt nicht genügend Decken und Matratzen, geschweige denn Lebensmittel oder irgendeine Beschäftigung für die Kinder. „Ich weiß auch nicht, warum die Saudis ihre Hilfe reduziert haben“, sagt Nazim Salih, der Bürgermeister von Maridsch. Die finanzielle Unterstützung der saudischen International Islamic Relief Organisation sei „sehr, sehr bescheiden“.

In Maridsch leben 10.000 syrische Flüchtlinge, fast doppelt so viele wie im vergangenen Winter. Sie machen bereits ein Drittel der Bevölkerung aus. Salih weiß nicht, wie er es schaffen soll, sich um all diese Menschen zu kümmern. Es fängt bei der unzureichenden Müllentsorgung an und hört mit der schlechten ärztlichen Versorgung auf. An eine Beschulung der syrischen Kinder ist gar nicht zu denken. Eine ganze Generation wächst ohne ordentliche Schulbildung auf.

Maridsch ist so überfordert wie ganz Libanon – ein kleines Land mit gerade mal viereinhalb Millionen Einwohnern, das eine Million Menschen aus dem Nachbarland aufgenommen hat. Erschwerend kommt hinzu, dass das UN-Flüchtlingswerk ebenso wie die internationalen Hilfsorganisationen bei ihrer Syrienhilfe stark unterfinanziert sind. Gerade erst wurden die monatlichen UN-Lebensmittelboxen für Familien verkleinert.

Deshalb kommen alle Syrer, die etwas brauchen und nicht mehr weiterwissen, in Salihs Büro im Erdgeschoss der Stadtverwaltung. Doch was immer er auch tut, es reicht nicht. „Ich habe eben erst 130 Decken, die ein Freund gespendet hat, verteilt.“ Ein Tropfen auf den heißen Stein. Zu Salihs Zuständigkeitsbereich gehören 13 inoffizielle Camps mit insgesamt 700 Zelten. Sie stehen allesamt an Orten, die unter Wasser stehen werden, wenn es stark regnet. „Dieser Winter wird ein Desaster“, sagt er.

Wer noch ein wenig Geld übrig hat, zieht in eines der privaten, inoffiziellen Camps wie das in Fa’ur etwas außerhalb von Maridsch. Die Bauern, denen der Acker gehört, haben die Leitung Amal Rabah übertragen, einer der Flüchtlingsfrauen. Sie kümmert sich um Vermietungen, Zuweisung eines Zeltplatzes, Verkauf von Wasser und was sonst noch anfällt im Camp.

Eines der Zelte ist besonders herausgeputzt – das von Dschamil Ali, 18 Jahre alt. „Ich heirate heute“, strahlt er. Seine Braut Wisal, 16, macht sich gerade schön für die Hochzeit. Am Nachmittag geht es los. Dschamal hat sein provisorisches Zuhause auf dem libanesischen Acker so heimelig gemacht, wie es unter diesen Umständen geht. „Ich habe in Syrien fast alles verkauft, um das hier einzurichten“, sagt er. Die Familie stammt aus Idlib.

Das Zelt hat Dschamil Ali mit einem Holzgerüst vergrößert, so dass man darin aufrecht stehen kann. In einem kleinen Nebenzelt ist eine Kochnische untergebracht. Zwei dicke Matratzen liegen übereinander auf dem Boden, dazu Kissen und Decken. In einer Ecke hat er einen kleinen Fernseher eingebaut, den Boden mit Perserteppichimitaten ausgelegt. Außen hat der junge Mann, wie die meisten anderen im Camp, mehrere Schichten Stoff und Planen über das Zelt gelegt, um es winterfest zu machen. „Ich weiß, dass es trotzdem Lecks geben wird.“ Aber heute ist das dem Bräutigam egal. Er steigt auf den Beifahrersitz eines Mopeds. Es geht zur Trauung.

Für andere im Camp ist es kein Freudentag. Zwei Familien bauen ihre Zelte ab, laden die Holzlatten und Planen auf einen blauen Pick-up. Der Stellplatz kostet 500.000 libanesische Pfund im Jahr, umgerechnet 250 Euro. Hinzu kommen pro Monat etwa 30 Euro für Strom und Wasser, das sie kaufen müssen. Eine ältere Frau, die ihre Habseligkeiten auf eine kleine Karre lädt, klagt, es sei alles um ein Vielfaches teurer als zu Hause. „Ein Brot kostet hier sechsmal so viel wie in Syrien.“ Die Ersparnisse sind aufgebraucht. Sie will mit ihrer Familie eine Stück Land suchen, das nicht in Privatbesitz ist und darum nichts kostet. Dafür wird es kein Strom und kein Wasser geben.

„Spenden sind selten“

„Es wird sehr schwer für sie, den Winter zu überstehen“, sagt Amal Rabah, die Campleiterin. Sie wundere sich, wo die internationalen Hilfsgelder hingingen, denn bei ihnen gelange nichts an. „Oft kommen Hilfsorganisationen zu uns, nehmen den Bedarf auf, und dann sehen wir sie nie wieder.“

Immerhin: In Amal Rabahs Camp hat man es geschafft, ein Schul- und Betreuungszelt für die Kinder aufzustellen. Es ist von außen bunt bemalt und innen mit Büchern, Stiften und Papier ausgestattet. Zweimal am Wochenende kommen Lehrer, die freiwillig hier unterrichten. Die Vorfreude der Kinder ist groß, der Unterricht fühlt sich wie ein Stück Normalität im Ausnahmezustand für sie an. „Aber Spenden sind sehr selten.“

Amal Rabah hat eine Wellblechhütte am Eingang des Camps, wo sie mit ihren Kindern und Enkelkindern lebt. Daneben dient ein kleiner Verschlag als Kiosk. Hier treffen sich die Lagerbewohner, sitzen mit einem Glas Tee in der Sonne, um etwas Wärme zu tanken, bevor es um halb fünf nachmittags dunkel und kalt wird. Eine Familie hat den ganzen Sommer Holz gesammelt. Sie will es aufsparen für die große Kälte im Januar. Wenn bloß der Regen nicht so früh einsetzt, bangen sie. Wenn das passiert, sagt Amal Rabah, „dann entwickelt sich die Lage von schlimm zu schlimmer“.

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