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Festival Club Transmediale BerlinDas ferne Beben der Utopie

Viel Platz für diverse Rezeptionsweisen elektronischer Musik und eine Würdigung der russischen Avantgarde. Eindrücke vom 15. CTM-Festival Berlin.

Prähistorische Musikinstrumente der russischen Musikavantgarde: Zu sehen in der Ausstellung „Generation:ReNoise“ Bild: Stefanie Kulisch/promo

Verharren statt tanzen, Leitmotiv des am Sonntag zu Ende gegangenen 15. CTM-Festivals in Berlin, einem der wichtigen Festivals für experimentelle Clubmusik. Nicht nur weil das Booking Schneisen in die homogene Clublandschaft schlägt, sondern auch weil es den unterschiedlichen Rezeptionsweisen von Musik viel Platz einräumt. Wie etwa im HAU2, wo die ganze Woche über akustische Parallelwelten zwischen Noise, Ambient und Free Jazz hörbar wurden.

So saßen Besucher bei der Performance des französischen Komponisten Kassel Jaeger bei trübem Licht auf dem Boden inmitten kreisförmig angeordneter Boxen, während die Künstler ihre Instrumente von der Bühne aus bedienten. Die Auflösung von innen und außen in Verbindung mit der Dunkelheit führte dazu, dass man sich selbst als Teil des Klangs wahrnahm. Unter dem abstrakten Grundrauschen versteckten sich Klänge, die vertraut schienen, aber dennoch fremd blieben.

Ein tiefes Grollen erinnerte an ein fernes Beben, während das sich bis zur Schmerzgrenze hochschraubende Prasseln dazu führte, dass man ständig zwischen tranceartiger Versenkung und körperlicher Anspannung wechselte. Die düstere Atmosphäre wurde von aufblitzenden Tonfragmenten konterkariert.

Ausstellung

„Generation Z: ReNoise“ ist noch bis 23. Februar im Kunstraum Bethanien Berlin zu sehen

Der US-Elektronik-Pionier Charles Cohen spielte mit seinem modularen Synthesizer ein beeindruckend improvisiertes Konzert, das in seiner wilden Rhythmik an Free Jazz erinnerte. Generell wurden diesmal eindeutige, tanzbare Rhythmen vermieden. Nicht nur auf den Konzerten, auch in den beiden Clubs Berghain und Stattbad Wedding lag der Schwerpunkt auf beatlosem Sound. So zeigte das US-Duo Metasplice im Berghain, wie detailliert die Abstufungen von Dunkelheit sein können, wenn sie nicht mit geraden Beats unterlegt sind. Auch hier changierten die Klänge zwischen Abstraktion und Alltagsnähe.

Komponieren mit Alltagsgeräuschen

Ein Merkmal, das bereits vor 100 Jahren in der russischen Avantgarde etabliert wurde. Das Rahmenprogramm des Festivals knüpft mit der Ausstellung „Generation Z: ReNoise“ an die musikalische Avantgarde Russlands vor und nach dem Ersten Weltkrieg an, in der man nicht mehr nur mit Tönen, sondern auch mit Alltagsgeräuschen komponierte

Hierzu sind im Künstlerhaus Bethanien seltene Geräuschinstrumente zu sehen, darunter eine riesige Basstrommel, deren Klangvermögen einer Techno-Bassdrum von heute in nichts nachsteht. Nicht nur klanglich sind die Instrumente interessant. Es sind Artefakte einer vergessenen Kulturgeschichte. Relikte einer Ära, in der Musiker und Wissenschaftler an einer neuen, visionären Musik forschten und damit den kulturellen Aufbruch nach der Oktoberrevolution 1917 prägten.

Geschichtsschreibung als Machtinstrument

Ein Aufbruch, der spätestens unter Stalin zerstört wurde, viele Musiker wurden in den Säuberungswellen ermordet. Wie viel gesellschaftsverändernde Sprengkraft das Regime der Avantgarde zuschrieb, lässt sich im Ausstellungsraum „Destruction of Utopia“ anschauen. Selbst auf berühmte Komponisten wie Schostakowitsch wurde politischer Druck ausgeübt. In einer Resolution des ZK der KPdSU 1948 wurden ihre Werke als „musikalische Folter“ bezeichnet.

Hier setzt das mit „Discontinuity“ betitelte Festivalmotto an, das am Beispiel der abgesägten Zweige des musikalischen Familienbaums verdeutlicht, dass Geschichtsschreibung immer auch ein Machtinstrument ist. Während die Kunst jener Zeit, etwa Malewitschs Schwarzes Quadrat, weltberühmt ist, fristet die sowjetische Elektronik-Avantgarde bis heute ein Schattendasein.

Dieser Faden aus musikalischem Pioniergeist und dem Glauben an eine Kunst, die eine Gesellschaft nicht nur unterhält, sondern auch widerspiegelt, wurde beim CTM-Festival sichtbar. Nicht nur die Drones von Mark Bain ähnelten den Geräuschexperimenten der russischen Avantgarde. Auch der große Besucherandrang beweist, dass ein Bedürfnis nach düsterer und entrückter Musik besteht. So wird Diskontinuität zu Kontinuität.

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